Nochmal zu diesen interessanten Punkten, nach wiederholtem Lesen:
Hier kann ich Dir ehrlich gesagt am wenigsten folgen. Mal abgesehen davon, daß ich, wie schon geschrieben, nicht glaube, daß der Normalhörer bei Melodien die Begleitakkorde mithört:
Was meinst Du eigentlich mit "abweichend harmonisieren"? Und wieso sollen Schubert und Brahms das getan haben? Die Nebenstufen (auch Stellvertreterfunktionen genannt) haben gerade in der Romantik den absolut gleichen Stellenwert wie die Hauptfunktionen! Sie werden selbstverständlich benutzt, wie sie schon Bach selbstverständlich benutzt hat und zwar genauso häufig und natürlich wie die Hauptfunktionen. Von "abweichend" kann da gar keine Rede sein!
Bei Stamitz und Haydn allerdings: da hättest Du absolut recht: Mollakkorde sind hier normalerweise in einen kurzen Minoreteil in die Mitte des Satzes verbannt. Aber selbst hier kann von einer "Standartharmonisierung" nie die Rede sein. Denn, wie Du sicher weißt, (da ich glaube, Du kennst Dich mit Harmonielehre aus): es gibt selbst dann immer eine große Anzahl verschiedener Harmonisierungsmöglichkeiten, wenn auch nur die Hauptfunktionen benutzt werden. Suche Dir einfach ein bekanntes Lied aus drei verschiedenen Liederbüchern und Du wirst 3 verschiedene Harmonisierungen dazu finden. Das einzige, worüber Du Dir sicher sein kannst, sind eben die Schlußbidlungen D-T oder S-D-T. Die sind i.d.T. immer gleich, aber alles dazwischen ist beliebig formbar, selbst mit nur 3 Akkorden. Das liegt ja daran, daß Tonika mit Dominante und mit Subdominante gemeinsame Töne haben, so daß immer verschiedene Akkorde zur Begleitung möglich sind.
Und was die Moll-Nebenfunktionen betrifft: die waren eben nur in der Frühklassik selten, sonst nie.
Und in der Romantik dann sogar erweitert sich dieser Akkordvorrat noch ganz stark, indem terzverwandte Akkorde allgemein benutzt werden. Ganz unabhngig von der Ausgangstonart. Nach z.B. G/h/D ist dann ganz einfach z.B. gis/h/dis, gar h/dis/fis, im Endeffekt sogar dis/fis/ais usw. möglich. Also sogar terzverwandte alterierte Akkorde ohne gemeinsamen Ton. In der Funktionstheorie läßt sich das nicht mehr darstellen (weil zu kompliziert), es wird einfach allgemein als "Terzverwandtschaft" bezeichnet. Und das fängt schon bei Schumann an.
Insofern: "abweichend harmonisieren" ist eine Bezeichnung, die für die Romantik eigentlich gar keinen Sinn macht, weder für Schubert noch für Brahms. Es gibt nämlich keinen "Standart" der Harmonisierung (abgesehen vom DurMoll-System an sich), sondern Harmonisierung ist ein ganz individueller Vorgang, der bei jedem Komponisten natürlich durch seine Persönlichkeit geprägt wird. Und wenn eine Stelle traurig oder tragisch klingen soll, werden natürlich Mollakkorde benutzt. Hauptfunktionen in Dur als "Standart" erwartet niemand. Die Harmonisierung ist so individuell wie das Kunstwerk selbst.
Der sogenannte "strenge Satz" individualisiert die Stimmen, wird dadurch aber noch nicht polyphon, denn zu Polyphonie im eigentlichen Sinn gehört immer auch eine unabhängige Rhythmik. Parallelrythmik wie im Kirchenchoral ist eigentlich das genaue Gegenteil von dem, was meist unter Polyphonie verstanden wird. Das Verbot von Quint- und Oktavparallelen gibt es bereits seit der Renaissance und wenn Du die Unabhängigkeit der Einzelstimme an sich zum Kriterium machen wolltest, dann wäre sämtliche mehrstimmige Musik nach dem Mittelalter ausschließlich polyphone Musik, denn verschmelzende Stimmen wurden seit damals nicht mehr komponiert. Dann wären wir an dem Punkt, wo "polyphon" und "mehrstimmig" ein und dasselbe wird, so wie das in England definiert ist. Eine völlig unzulässige Vereinfachung von eigentlich viel komplizierteren Strukturen.2.) Der klassische 4-stimmige Satz, egal ob mit Harmoniewechsel auf jeder Zählzeit oder mit längeren Harmonieflächen (wie beim begleiteten Volkslied/Popsong etc.), individualisiert die Stimmen, am stärksten den Baß, der idealerweise in Gegenbewegung zur Oberstimme geführt wird, woraus sich eine latente Kontrapunktik wie von selbst ergibt, bei jedem besseren Komponisten planvoll, und da wären wir schon wieder beim 2-stimmigen Kontrapunkt. Die Wirkung einer guten Baßstimme nimmt jeder Hörer wahr – vor allem ihren dialektischen Bezug zur Oberstimme. An dieser Stelle kann Herr Rauhe eigentlich schon einpacken.
Je homophoner ein Satz ist, je häßliche und langweiliger die Begleitstimmen, desto mehr tritt die Melodie in ihrer ganzen Schönheit und Qualität (sofern vorhanden) hervor. Viele Musik will nur das und nicht mehr. Z.B. die ganze Frühklassik aber auch die U-Musik und ein großer Teil der einfach begleiteten Kunstlieder. Als "Fehler" darf man das nicht sehen, es ist ein bestimmtes Schönheitsideal, daß dem bescheidenen und auf "innere Größe" ausgelegten Wertesystem der Aufklärer voll entsprach. In dieser Musik steckt letztlich die Philosophie der Gelehrten der damaligen Zeit, eines Kant oder Winkelmann. Daß diese Musik für die Begleitsimmen undankbar zu spielen ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt.3.) Das größte Problem in einer homophonen Komposition sind die Mittelstimmen. Ein rein akkordischer Begleitsatz kann vom Harmonieverlauf her plausibel sein. Aber die einzelnen Stimmen, aus denen er sich zusammensetzt, sind oft sterbenslangweilig oder potthäßlich, am schlimmsten die Altstimme im Chor- und die Bratschenstimme im Orchestersatz: in der Frühklassik oder später bei lieblos arbeitenden Komponisten reine Füllstimmen, entweder völlig ungesanglich oder aus penetranten Tonwiederholungen bestehend. Warum sucht jeder halbwegs vernünftige Komponist, diese Fehler zu vermeiden? Weil man diese Fehler im homophonen Stimmengeflecht hört, oder umgekehrt: weil man eine liebevolle Stimmführung auch bei rein harmonischen Komplexen hört, nämlich eine individualisierte durchmelodisierte Mittelstimme, wovon übrigens schon die Bach-Choräle Zeugnis ablegen.