Die Jüdin Eva Kor vergibt KZ-Arzt Mengele
Eva und Miriam überlebten Auschwitz, als einzige aus ihrer Familie. Als jedoch vor allem Miriams körperliche Spätfolgen Ende der 80er Jahre so lebensbedrohlich wurden, daß auch eine Nierenspende der mittlerweile mit ihrem Mann in die USA emigrierten Schwester keine Genesung brachte, begann Eva Kor mit der Recherche nach Mengeles Akten. Wissenschaftliche Hinweise fand sie nicht. Nie. Aber sie stieß auf einen noch lebenden ehemaligen SS-Arzt, der gemeinsam mit Mengele in Auschwitz gearbeitet hatte und der bereit war, sie zu empfangen: Dr. Hans Münch.
1993 fuhr Eva Kor nach Deutschland, wo der einstige SS-Arzt, der 1947 als Kriegsverbrecher angeklagt, aber freigesprochen worden war, als Landarzt im Allgäu lebte. Auf vieles war Eva Kor bei dieser Begegnung gefaßt gewesen - einen ihr reuevoll gegenübertretenden Ex-Nazi hatte sie nicht erwartet. Münch, ein höflicher alter Mann mit korrekt geschnittenem weißen Bart, präsentierte sich der Auschwitz-Überlebenden (und dem bei der Begegnung ebenfalls anwesenden holländischen Kamerateam) als ein Mensch, der bereute, der ihr von Depressionen und Alpträumen berichtete.
Eva Kor lud Münch ein, sie zum 50. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz zu begleiten. Er willigte ein.
Es war Winter in Auschwitz, als Eva Kor im Januar 1995 auf den verschneiten Trümmern eines Krematoriums stand. Neben sich Dr. Münch in seinem dunklen Wintermantel, vor sich die anderen Überlebenden und die Kameras der Welt. Kor ließ Münch eine Erklärung unterzeichnen, mit der er die Existenz der Gaskammern bestätigte - niemand sollte den Holocaust mehr leugnen können. Schon die Anwesenheit des Gastes hatte zu scharfen Protesten geführt, Eva Kor aber ging weiter. Sie fühlte einen "so starken Drang, ihm zu danken", daß sie ihrerseits eine Erklärung verlas. Sie vergab Münch.
Und Mengele.
Und allen anderen Nationalsozialisten.
Eine öffentliche Blanko-Vergebung, ein unerhörter Schritt - und für Eva Mozes Kor der entscheidende "Akt der Selbstheilung". "Vergebung", sagt sie heute, "ist der Samen für Frieden."
Ihren eigenen Frieden jedenfalls habe sie gefunden. Darüber hinaus drängen sich Fragen auf: Kann man jedem vergeben? Kann man alles vergeben? Und: Darf man? Auf Eva Kors öffentlichen Akt folgen empörte Reaktionen aus aller Welt, von Holocaust-Überlebenden aus Israel, Deutschland und den USA.