"Dem seit Jahren anschwellenden Unisono griechischer Reparationsforderungen hat sich eine reale zweite Stimme hinzugesellt: die der Republik Haiti. Sie verlangt Kompensation für alle im zweiten Weltkrieg entstandenen Schäden und erkennt - ebenso wie Griechenland - den Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht als eine endgültige und verbindliche, ihre Ansprüche ausschließende Regelung an. Unabhängig von der klaren deutschen Haltung in dieser Frage: dass nämlich die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs alle Reparationsforderungen beglichen habe und darüberhinausgehende Forderungen verjährt seien, war man in Berlin von der jüngsten Verbalattacke Haitis überrascht und musste tief im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes wühlen, um herauszufinden, worauf sich Außenminister Duly Brutus in seiner Rede vom 25. März eigentlich bezogen hat. Fakt ist: Nach dem Überfall auf Pearl Harbor und Hitlers Kriegserklärung an die USA war das US-Außenministerium um größtmögliche diplomatische Isolierung der Achsenmächte bemüht und drängte alle Staaten des amerikanischen Kontinents, der Achse Berlin-Rom-Tokio den Krieg zu erklären - alle Staaten, bis auf Haiti. Die Gründe sind unklar. Ob Haiti einfach vergessen wurde oder den USA zu unwichtig erschien? Jedenfalls wurmte den haitianischen Präsidenten Élie Lescot diese Vernachlässigung ungemein, und so erklärte er aus eigenem Antrieb - am Parlament vorbei - den Achsenmächten den Krieg und erklärte vollmundig, haitianische Flugzeuge würden 'den Himmel über Tokio und Berlin durchpflügen und Terror säen unter der deutschen und japanischen Bevölkerung'. Wer immer nun Deutschland in den Bombennächten des zweiten Weltkriegs seine Aufwartung gemacht hat - dass haitianische Flugzeuge dabeigewesen wären, ist ein historisches Novum, und als 1946 in Paris das Reparationsabkommen ausgehandelt wurde, war Élie Lescot bereits im US-amerikanischen Exil und sein Nachfolger Franck Lavaud hatte andere Sorgen, als sich vom Nachkriegsdeutschland irgendwelche Rechnungen bezahlen zu lassen. Das wollen der jetzige Regierungsschef Evans Paul und sein Außenminister Brutus nachholen. Ihre Hauptforderung: Haitis Militärtechnologie (Fahr- und Flugzeuge im hohen einstelligen Bereich) sei nach dem Krieg 'am Boden zerstört' gewesen, und Deutschland müsse für den Schaden aufkommen. Neben dem üblichen, von Außenminister Steinmeier mantraartig wiederholten Spruch, dass die Reparationsfrage politisch und juristisch geklärt sei, sind von deutscher Seite ein paar unfeine Kommentare zu hören - aus dem Außenamt: Haitis Militärtechnologie habe sich bei Kriegsende in exakt demselben Zustand befunden wie vor dem Krieg, und aus dem Finanzministerium: Man könne die Forderungen aus der Portokasse begleichen. Es bleibt abzuwarten, ob Haitis korrupte Führungsriege, der eine Finanzspritze guttun würde, sich mit solchen Auskünften zufriedengibt."
Quelle: Frankfurter Neue Rundschau, 30. März 2015