Kiew. „Die Ukraine muss erfolgreich sein, das ist unsere Mission! Allein um Putin zu zeigen, dass es möglich ist, ein normales, zivilisiertes Land zu werden!“, sagt Hanna Hopko kämpferisch. Die 32-jährige Westukrainerin sitzt in einem Kiewer Café unweit des Maidan Nesaleshnosti. Die Ereignisse auf dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt haben sie geprägt. Seit den Parlamentswahlen vom 26.Oktober 2014 ist sie Abgeordnete im ukrainischen Parlament.
Auch Hopko stand auf dem Maidan. „Ich will nicht in einem russischen Imperium leben“, erklärt sie. Ihre Arbeit im Parlament sieht sie als Verpflichtung gegenüber ihrem Land. Kandidiert hat sie auf der Liste der Partei Samopomitsch (Selbsthilfe) des Lemberger Bürgermeisters, Andrij Sadowyi, allerdings ohne Parteimitglied zu sein. Ein Ministeramt im Kabinett von Premierminister Arsenii Jazenjuk schlug sie nach der Wahl aus.
Sie ist nicht die einzige Politikerin ohne konkrete Amtserfahrung. Rund 30 reformorientierte zivilgesellschaftliche Aktivisten, viele während des Maidan aktiv, kandidierten bei den Parlamentswahlen 2014 auf verschiedenen Parteilisten für einen Platz in der neu 423 Abgeordnete zählenden Werchowna Rada. Ein Novum in einem Land, in dem Politik in der Vergangenheit pauschal als schmutziges, korruptes Geschäft galt.
Volk will Veränderungen
„Seit dem Maidan gibt es in der Gesellschaft einen starken Drang nach Veränderungen, viel stärker als bei den Politikern selbst“, sagt Serhij Leschtschenko, früher stellvertretender Chefredakteur der Internetzeitung Ukrainskaja Prawda, jetzt ebenfalls Parlamentsabgeordneter für den Block Poroschenko, der Partei des Präsidenten. Initiativen und Gesetzesvorschläge werden zahlreich diskutiert. Internationale Berater, darunter der georgische Ex-Präsident Michail Saakaschwili, geben sich dieser Tage in Kiew die Türklinke in die Hand. Kritiker fordern jedoch weniger Diskussionen, sondern eine raschere Umsetzung der Reformen, trotz des Kriegs in der Ostukraine.
Leschtschenko kann die Kritik gut nachvollziehen: „2014 war ein verlorenes Jahr“, sagt der 34-Jährige. Aus Angst vor unpopulären Entscheidungen habe es Premier Jazenjuk versäumt, dringend notwendige Reformen anzupacken. Zentral sind Korruptionsbekämpfung, Justiz- und Polizeireform. Nach wie vor ist der Einfluss der Oligarchen auf Wirtschaft und Politik sehr groß.
Auch auf Präsident Poroschenko wächst der Druck. Einerseits durch den Krieg im Donbass: „Er verspricht Frieden. Allein seit Unterzeichnung des Minsk-I-Abkommens im September sind jedoch mehr als 5300 Menschen umgekommen“, kritisiert Hopko. Die Versorgung von knapp einer Million Binnenvertriebenen stellt Kiew zusätzlich vor wirtschaftliche Probleme.
Andererseits steht der Präsident innenpolitisch vor einem Drahtseilakt. Er muss zwischen den Interessen verschiedener Gruppen vermitteln, ohne dabei diejenigen zu verärgern, die einen neuen Politikstil von ihm erwarten: Keine Postenvergabe aufgrund von Loyalitäten, einziges Kriterium sollen Professionalität und Qualifikation sein. Als „Vernunftehe“ beschreibt der Politologe Wolodymyr Fesenko, Vorsitzender des Penta-Zentrums in Kiew, die momentane politische Konstellation in der Ukraine mit dem Tandem Poroschenko-Jazenjuk an der Spitze.
„Himmlische Hundertschaft“
Trotz Rivalität, dem Premier werden eigene Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt, hätten die beiden verstanden, dass ein offener Konflikt aktuell keinem nützen würde. Poroschenko agiert dabei laut Fesenko flexibler, er versuche durch geschickte Ämterverteilung die Allianz zu stärken.
Etwas mehr als zwei Monate ist es nun her, dass das neue Parlament seine Arbeit aufgenommen hat. Die Herausforderungen sind riesig: Kiew steht in der Ostukraine einem militärisch klar überlegenen Gegner gegenüber. Dem Land droht der Staatsbankrott: Im Jänner 2015 sind die Währungsreserven auf 6,4 Milliarden Dollar gesunken. 2015 wird mit einer Inflation von 26 Prozent gerechnet.
Auch Leschtschenko und Hopko sind frustriert über das alte, oft unflexible, vorrevolutionäre System. Die Politik aufzugeben und sich eine neue Beschäftigung zu suchen scheint eine verlockende Alternative. „Aber das wäre Verrat an den Kämpfern in der Ostukraine und den Menschen, die auf dem Maidan gestorben sind“, sagt Hopko. 2014 habe aber auch positive Effekte gebracht. Viele Ukrainer hätten nun realisiert, dass jeder selbst für seine persönliche Zukunft und die des Landes verantwortlich sei, sagt sie. Solidarität und Durchhaltewillen der Menschen wurden gestärkt.
Die „Himmlische Hundertschaft“, die Opfer der blutigen Ereignisse zwischen dem 18. und 20.Februar 2014, ist rund um den Maidan noch immer allgegenwärtig. Gedenkstätten aus Blumen, Fotos und Kerzen wurden errichtet. Passanten bekreuzigen sich davor. Daneben wird für die Kämpfer in der Ostukraine gesammelt. An den Wänden rufen proeuropäische Graffiti Kiew zum Kurs auf Brüssel auf. Plakate zeigen Beweise für die Beteiligung russischer Soldaten an den Kämpfen im Donbass.
Doch auch wenn die sichtbaren Spuren der Straßenkämpfe beseitigt wurden. Das Leben im Ausnahmezustand, hervorgerufen durch Krieg und Wirtschaftskrise, beginnt seinen Tribut von der ukrainischen Gesellschaft zu fordern. Zunehmend bestimmen Hass und Unverständnis das Verhältnis zur Ostukraine und Russland. Hier wird nach dem Krieg, so er denn endet, viel Versöhnungsarbeit nötig sein, um zu kitten, was in nur einem Jahr aufgerissen wurde.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2015)