Die Menschen in Sibirien sind etwas besonderes. Sie haben eine besondere Seele und eine besondere Mentalität. Ich erinnere mich sehr gut an eine Geschichte, die sich vor genau 15 Jahren ereignet hat. Im Sommer 1998. Ich wurde ein indirekter Zeuge des Geschehens.
Etwa 35 Kilometer südlich von Tomsk gibt es ein kleines Dorf. Die Bevölkerung in dieser Gegend gilt als fleißig und gründlich (sibirische Menschen eben). Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten sie es - wie alle anderen - nicht einfach, doch unter klaffender Armut litten sie auch nicht. In der sowjetischen Zeit gab es im Dorf ein Sägewerk, welches 1992 - kurz nach dem Zerfall - geschlossen wurde und seitdem leer stand. Doch schon bald zog eine anständige tschetschenische Familie ins Dorf (ich sage das völlig ohne Ironie, diese Tschetschenen waren wirklich ordentliche, intelligente Menschen), welche mit ihrer Arbeit und ihrem Geld das Sägewerk modernisiert und wieder in Betrieb genommen hat. Alle waren glücklich darüber. Durch das wiederhergestellte Sägewerk entstanden Arbeitsplätze, die für ländliche Verhältnisse anständig bezahlt waren.
Die tschetschenische Familie hat sich an die lokalen Regeln gehalten und sich so gut es geht angepasst, um nicht negativ aufzufallen. Doch eines Tages bekam diese tschetschenische Familie Besuch von einigen ihrer Landsleute (es handelte sich wohl um Verwandte), die sich mehr als falsch verhalten haben. Es fuhren vier junge tschetschenische Typen mit einem Geländewagen mit getönten Fensterscheiben durch das Dorf. Sie sahen ein attraktives, 16-jähriges Mädchen und luden es auf eine Spritztour ein. Dem Mädchen gefiel diese Perspektive nicht und sie lehnte dankend ab. Doch die vier Kaukasier bestanden darauf und wurden handgreiflich. Durch die Schreie des Mädchens eilten einige russische Jungs aus dem Dorf herbei und forderten die Tschetschenen auf, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Die Tschetschenen zückten ihre Messer. Die russischen Jungs zeigten sich davon unbeeindruckt und gingen mit Eisenstangen gegen die vier Fremden vor. Infolgedessen erlitten alle vier Tschetschenen ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma, welches im Zentralkrankenhaus in Tomsk behandelt wurde.
2-3 Tage später erschienen beim Dorfbürgermeister vier bärtige Männer mittleren Alters in teuren Anzügen. Es war eine Delegation von Aksakals (muslimische Oberhäupter) aus Tschetschenien bzw. aus der Gegend, woher die vier jungen Tschetschenen stammten, die aufgrund ihrer Dreistigkeit Prügel kassiert haben. Die Männer forderten den Dorfbürgermeister dazu auf, diese Jungs herauszugeben, die ihre Landsleute geschlagen haben. Ansonsten, so drohten die Tschetschenen, wird das ganze Dorf in Blut baden.
Der Dorfbürgermeister, ein kräftiger, untersetzter typisch sibrischer Mann, der etwa Mitte 50 ist, rauchte an seinem Schreibtisch eine Zigarette und parierte:
"Also zuerst, meine sehr Verehrten, möchte ich sie ein wenig in die Statistik einweihen. In meinem Dorf leben 800 Menschen. Die Hälfte davon Männer. Von dieser Hälfte sind nochmal die Hälfte Männer zwischen 16 und 60 Jahren. Erstens.
Unser Volk lebt nach den Regeln der Taiga. Wir sind Wilderer, meine Fresse, was willst du machen. In jeder Hütte gibt es Knarren, oft auch nicht nur eine. Das heißt, es gibt in unserem Dorf schätzungsweise 200 Knarren. Zweitens.
Wenn Ihnen das wenig vorkommt, dann gibt es fünf Kilometer südlich und viereinhalb Kilometer nördlich nochmal zwei solcher Dörfer. Das heißt, es gibt in diesem Umkreis etwa 600 Knarren. Und ich habe unsere Frauen nicht mitgezählt, von denen man mehr erwarten kann als nur Kratzer. Drittens.
Und dann wollt ihr bärtigen Schwuchtel mir weismachen, dass ihr hier Krieg führen wollt?"
Die Tschetschenen schauten einander an und schauten auf den Zigarettenqualm, der im Raum stand. Plötzlich erschien vor der Tür der älteste Jäger und Dorfpolizist. An der rechten Schulter hielt er das Sturmgewehr AKS-74U und an der linken ein Simonow SKS-45 Selbstladegewehr. Die Tschetschenen standen schweigend auf und gingen. Danach wurden sie im Dorf nie mehr gesehen.
Diese Geschichte ist absolut wahr. Der besagte älteste Jäger und Dorfpolizist, Nikolai ist sein Name, hat mir das erzählt. Als ich in fragte, was denn wäre, wenn die Kaukasier in Massen dorthin gekommen wären, antwortete Nikolai: "Slawa, die Taiga ist riesig. Nehmen wir mal an, ein ganzer Bus von ihnen würde hierhin kommen. Na und? Sie würden schon Kilometer vor dem Dorf steckenbleiben, weil es kaum befahrbare Straßen gibt. Und wir würden sie zum Teufel mit dem Bulldozer zugraben, niemand würde auch nur nach ihnen suchen..." Und ich glaubte ihm, und ich glaube nach wie vor an solche Menschen...