Freiheit war immer ein hehrer Wert, den es zu erkämpfen oder zu verteidigen galt. Doch ein Übermaß an Freiheit führte schon immer in die Dekadenz.
Im 18. Jahrhundert, als sich das Bürgertum zu emanzipieren begann, blickte es noch voller Verachtung auf den Adel, der in seiner Sittenlosigkeit und libertinen Lebensweise sämtliche moralischen Werte verschmähte. Das Bürgertum sah sich selbst als tugendhaft, moralisch, setzte sich vom dekadenten Adel ab, bis hin zur französischen Revolution, wo die "Tugend" zum Schlagwort avancierte und als Rechtfertigung für den Terror herhalten musste. Das 19. Jahrhundert ist bekannt für seine strengen sittlichen Normen, vor allem in sexueller Hinsicht.
Doch schon wenige Jahrzehnte später, als das Bürgertum endgültig im Sattel saß und die treibende Kraft in der Gesellschaft wurde, zog auch die Dekadenz ein. Man war auf einer Stufe angekommen wie der Adel 100 Jahre zuvor. Mittlerweile hat unsere Sittenlosigkeit und der völlige Verlust moralischer Normen einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht.
Wir Menschen sind Wesen mit einer Moral. Wir verachten die Zügellosigkeit, das schlechte Benehmen, die Perversion und das Tierische. Daher gibt es Moral. Sie unterscheidet uns von Tieren und macht uns zu Menschen. In früheren Gemeinschaften wurde streng über die Sittlichkeit gewacht. Vergehen wurden geahndet. So konnte der Zusammenhalt der Gruppe gewahrt werden. Heute übernimmt diese Aufgabe der Staat als abstrakte Verkörperung der Gemeinschaft. Er muss einen Kompromiss finden zwischen der Freiheit und der moralischen Ordnung. Meines Erachtens neigt er aber zu einseitig in Richtung Freiheit, die heutzutage als "Freiheit alles zu tun, solange es niemandem schadet" ausgelegt wird. Das Pendel ist zu weit in die eine Richtung ausgeschlagen und hat die andere vernachlässigt. Sitte und Moral gelten heute so gut wie nichts mehr. Ausnahmslos alle westlichen Gesellschaften entwickeln sich in diese Richtung, was den Verdacht nahe legt, diese Entwicklung sei unumgänglich in einer liberalen Gesellschaft. Die Perversion und die Sittenlosigkeit nehmen Überhand.
Nun meine Fragen:
Ist der moralische Zerfall, ist die Dekadenz die natürliche Entwicklung des freiheitlichen Liberalismus?
Ist Freiheit wirklich der höchste Wert, den es anzustreben gilt, selbst wenn andere Werte, die für das Zusammenleben unabdingbar sind, verloren gehen?
Woher können wir in einer Zeit, in der fast niemand mehr an etwas glaubt, unsere Werte hernehmen? Werte, die uns Orientierung geben und dem Sittenverfall entgegenwirken.