Etwa 70 Prozent der Schüler brächten nach dem Kindergarten nicht mehr die nötigen motorischen Voraussetzungen für das sogenannte Kritzel-Alphabet mit, sagte die Nürnberger Bildungsforscherin Stephanie Müller der Nachrichtenagentur dpa. Diese zeichnerischen Elemente wie kleine Schleifen, Schlangen- oder Zickzacklinien seien die Grundlage für verbundene Schriften mit Buchstaben, die ineinander übergehen wie bei der Schreibschrift. Die Gründe seien unter anderem: Zu wenig Bewegung, fehlende Fingerfertigkeit, keine Eltern als Vorbilder und moderne Geräte wie Smartphones und Tablet-Computer.
"Die Kindheit heute ist nicht mehr so bewegt", sagt Müller. Früher habe man viel draußen gespielt, sei rumgehüpft und auf Bäume geklettert. "Heute können Kinder in der dritten Klasse nicht mal mehr gerade rückwärtsgehen oder freihändig auf einem Bein stehen." Auch Aufgaben, die Fingerfertigkeit erfordern, wie etwa einen Faden einfädeln oder eine Schleife am Schuh binden, seien meist nicht mehr nötig durch Klettverschlüsse und Druckknöpfe. Grob- und Feinmotorik prägten sich dadurch nicht mehr gut aus.
Außerdem hätten viele Eltern keine Zeit mehr, sich um die Schreibfähigkeit ihrer Kinder zu kümmern. "Es achtet niemand mehr darauf, dass ein Kind Schreiben übt." Die Kinder würden ihre Eltern auch nicht mehr Schreiben sehen. Zudem seien bei Smartphones und Tabletcomputern ganz andere Handbewegungen und Muskeln nötig als beim Halten eines Stiftes. "Dafür braucht man nur den Zeigefinger oder beide Daumen zum Tippen, oder das Handgelenk, wenn man über das Pad wischt."
Zwischen Kita und Grundschule sei daher ein Jahr nötig, in dem die Kinder die Grundfähigkeiten für das Schreiben lernen, sagt Müller. Früher habe man im Kindergarten gespielt, gemalt und gekritzelt und in der ersten Klasse monatelang nur Schwungübungen gemacht, bevor es richtig ans Schreiben ging. Das falle heute aus. "Wenn die Kinder mit sechs Jahren schulreif sind, sollte die Motorik entwickelt sein, das ist sie aber heute nicht."
In vielen Schulen werde mittlerweile nur noch die Druckschrift-ähnliche Grundschrift oder die vereinfachte Ausgangsschrift gelehrt und nicht mehr die lateinische, bei der alle Buchstaben verbunden sind. Müller nennt jedoch mehrere Vorteile der Schreibschrift: "Es ist bewiesen, dass eine verbundene Handschrift mit Richtungsänderungen einen höheren Lerneffekt hat als die Druckschrift." Mit einer verbundenen Schrift könne man zudem viel schneller schreiben, als wenn man - wie bei der Druckschrift - jeden Buchstaben neu ansetzen müsse.
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