SWP Aktuell Nr. 11 / Februar 2022 (Auszug)
Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld
...
In der
Nato-Russland-Grundakte vom
Mai 1997 verpflichteten sich die Bündnispartner und Russland, ihre Sicherheitskooperation zu vertiefen, die
OSZE als gemeinsame Sicherheitsorganisation zu stärken und den
KSE-Vertrag an die neue geopolitische Lage anzupassen. Das
obsolete militärische Blockgleichgewicht sollte durch nationale und territoriale Obergrenzen für jeden Vertragsstaat abgelöst werden. Sie würden auch die Zahl stationierter Truppen begrenzen. Die Nato werde
»keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen« vornehmen. Zudem stellte die Nato fest, sie habe
keinen Grund,
keine Absicht und
keinen Plan, Atomwaffen in den
Beitrittsländern zu dislozieren oder dies logistisch vorzubereiten.
Diese Vereinbarungen überlagerten
mündliche Äußerungen des amerikanischen
Außenministers James Baker und des deutschen
Außenministers Hans-Dietrich Genscher von 1990, laut denen die Nato
nicht beabsichtige, sich nach der deutschen Vereinigung weiter Richtung Osten auszudehnen. Diese Bekundungen spiegelten die Lage zur Zeit des Zwei-plus-Vier-Vertrags wider, als das Ende des Warschauer Paktes und der Sowjetunion noch nicht absehbar war. Russland stimmte der
ersten Nato-Erweiterung von
1999 unter den Bedingungen zu, die in der
Nato-Russland-Grundakte von
1997 festgeschrieben worden waren.
Trotz der
Verstimmung wegen des
Kosovokrieges der
Nato gegen
Serbien wurden diese Vereinbarungen zunächst umgesetzt. Nach kurzer Unterbrechung erörterte der Ständige Gemeinsame Rat der Nato-Staaten und Russlands ein breites Themenfeld im gemeinsamen Sicherheitsinteresse. Bei der
Umsetzung der
Dayton-Abkommen zur Rüstungskontrolle im früheren Jugoslawien arbeiteten die beiden Seiten zusammen.
Beim Istanbuler
OSZE-Gipfeltreffen 1999 unterzeichneten die
KSE-Vertragsstaaten das
KSE-Anpassungsabkommen (AKSE). Parallel dazu verabschiedeten alle OSZE-Teilnehmerstaaten die
»Europäische Sicherheitscharta«. Darin bekennen sie sich erneut zum Ziel, einen gemeinsamen Raum gleicher und unteilbarer Sicherheit zu schaffen.
Kein Staat und keine Organisation könne eine vorrangige Verantwortung für die Bewahrung der europäischen Sicherheit beanspruchen oder besondere Einflusszonen geltend machen.
Gleichwohl habe jeder Staat das Recht, einem Bündnis beizutreten oder neutral zu bleiben. Allerdings sollen die Staaten ihre gegenseitigen Sicherheitsinteressen respektieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten stärken.
Rüstungskontrolle und Vertrauensbildende Maßnahmen seien Kernelemente, um Sicherheit und Stabilität im OSZE-Raum zu gewährleisten. Ihr »Eckpfeiler« sei der KSE-Vertrag. Seine Anpassung werde dem Wandel der Rahmenbedingungen Rechnung tragen, den Vertragsbeitritt weiterer europäischer Staaten ermöglichen und so zur Verbesserung der militärischen Stabilität in Europa beitragen. Moskau wirft der Nato vor, sie habe sich nach Osten erweitert,
ohne die Vereinbarungen einzuhalten.
Erosion der Vereinbarungen
Das
KSE-Anpassungsabkommen ist
nicht in
Kraft getreten, obwohl Russland es
2004 ratifiziert hat. Im Bündnis
blockierten die
USA die
Ratifizierung des
AKSE, nach dem
George W. Bush 2001 sein Amt als Präsident angetreten hatte.
Er wollte den
Abzug verbliebener russischer Stationierungstruppen aus
Georgien und der
Republik Moldau erreichen, um den
Nato-Beitritt der
Ukraine und
Georgiens vorzubereiten. Die USA begründeten dies mit bilateralen Zusatzvereinbarungen Russlands mit Georgien sowie mit der OSZE, die während des OSZE-Gipfels in Istanbul den KSE-Vertragsstaaten zur Kenntnis gegeben und in der KSE-Schlussakte zusammengefasst wurden.
In der
Nato bestand jedoch
kein Konsens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen auch für russische Peacekeeper in den Konfliktgebieten
Abchasien und
Transnistrien galten, da sie über
Mandate der
UN und der
OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 zunächst
alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Stationierungstruppen aus Georgien
abgezogen hatte, änderte sich die
amerikanische Haltung zum AKSE
nicht. Deutschland teilte diese Auffassung zwar nicht, wollte aber die Bündnissolidarität
nicht brechen.
Obwohl der
AKSE wegen der
Blockade durch die
USA nicht in Kraft getreten war, traten der
Nato ab
2004 Staaten bei, die dem KSE-Vertragsregime
nicht angehören. So entstanden an
Russlands Grenzen, nämlich in den
baltischen Staaten, potentielle Stationierungsräume der Allianz, die
keinen rechtsgültigen
Rüstungskontrollregeln unterliegen.
Ferner
verhinderten die USA, dass die Zusage,
keine zusätzlichen »substantiellen Kampftruppen« dauerhaft zu stationieren,
gemeinsam mit Russland
definiert wurde. Dies wäre aber schon deshalb wichtig, weil
Russland gleichlautende
Verpflichtungen für die
Grenzräume zu den
baltischen Staaten, Polen und
Finnland eingegangen ist.
Stattdessen schufen die
USA 2007 eine
ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer,
ohne dies vorher im
Bündnis oder im
Nato-Russland-Rat zu
erörtern. Ihre
»rotierenden« Kampftruppen in Rumänien und Bulgarien bezeichneten die USA als
»nicht substantiell«. Beide Staaten gehören aber zum
»Flankengebiet der östlichen Gruppe« der
KSE-Vertragsstaaten, für die
besondere Begrenzungen und
Konsultationspflichten gelten.
Russland hat daraufhin die
eigenen Flankenbegrenzungen, welche den Umfang russischer Truppen im Hohen Norden und im Kaukasus limitieren, für
obsolet erklärt. Schon seit
2002 hatte Moskau
argwöhnisch auf die Entwicklung der
georgisch-amerikanischen Militärkooperation (Train and Equip Program) geblickt, mit der eine
US-Militärpräsenz an der
instabilen russischen Kaukasusgrenze eingerichtet wurde. Hatte Moskau noch 1996 Sanktionen gegen das Separatistenregime in Abchasien veranlasst, begann es nun, die von Georgien abtrünnigen Republiken informell zu stützen.
Den
Austritt der
USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme
(ABM-Vertrag) 2002 wertete Moskau als
Gefahr für die
strategische Stabilität. Sie
verschärfte sich, als die
USA 2007 mit
Polen und
Tschechien bilateral
vereinbarten, dort
Raketenabwehrsysteme zu stationieren.
Washingtons Begründung, der iranischen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel.
Den
Angriff der
USA gegen den
Irak 2003 kritisierte Moskau als
Völkerrechtsbruch. Zwar gab es in der Nato keinen Konsens für den Krieg, doch Washington konnte sich auf eine
»Koalition der Willigen« stützen, die vor allem aus den neuen
osteuropäischen Verbündeten bestand.
Schon
1999 hatte
Moskau den
Krieg der
Nato gegen
Serbien als
illegalen Angriffskrieg und
Verletzung des
Gewaltverbots gebrandmarkt.
Bei der
Münchner Sicherheitskonferenz im Februar
2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als
Bruch der Vereinbarungen von
1997 und
1999 und
unterstellte den
USA, sie betreibe
Geopolitik zum
Nachteil Russlands.
Ende 2007 suspendierte er den
KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept
obsolet geworden war.
Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert.
Moskau reagierte, indem es seine informellen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990–1994 unter Leitung der UN und der OSZE
verhandelt. Als
Bruchpunkt in den
Beziehungen der
Nato zu
Russland erwies sich ihr
Bukarester Beschluss vom
April 2008, der
Ukraine und
Georgien den
Bündnisbeitritt in
Aussicht zu
stellen.
Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte Präsident George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Beitrittsplan. Sie bezweifelten, dass die innenpolitischen Verhältnisse der Kandidaten den Nato-Standards entsprächen. Auch befürchteten sie eine
Destabilisierung der Ukraine, da die
Bevölkerungsmehrheit den Bündnisbeitritt
ablehnte. Zudem mahnten sie,
»rote Linien« Moskaus
nicht zu überschreiten, um die
regionale Stabilität und die
Sicherheit Europas und der Allianz
nicht zu gefährden.
Gleichwohl fühlte sich der
georgische Präsident Saakaschwili durch seine
strategische Partnerschaft mit den USA
ermutigt, am 7. August
2008 ossetische Milizen und russische Peacekeeper in der südossetischen Stadt Zchinwali
anzugreifen. Der
russische Gegenschlag vertrieb die
georgische Armee aus
Südossetien und eröffnete eine zweite Front in
Abchasien. Dass Moskau nach dem Waffenstillstand die beiden abtrünnigen Regionen als »Staaten« anerkannte,
wertete der Westen als
illegale Änderung von Grenzen durch
Gewalt und als
Verletzung der
Souveränität Georgiens.
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Quelle im Volltext:
SWP Aktuell Nr. 11 Februar 2022 (PDF-Dossier)
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