Teil 3:
Zweitens: Medea-Spiel (1974?)
Die Herausgeber haben diesen sehr kurzen Text 17 1974 datiert. Ich lese ihn als eine Art Lehr-Spiel, als lade Heiner Müller ein, die essentiellen und existentiellen Vorgänge aus dem Mythos herauszusezieren und sie metaphorisch und ohne Worte darzustellen. Zunächst werden die Personen festgelegt: Ein Mann. Ein Mädchen. Mehrere Figuren mit Totenmasken. Dann die Handlung: 1. Die Hochzeit. Figuren mit Totenmasken binden das Mädchen mit seinem eigenen Gürtel an das Bett. Figuren mit Totenmasken bringen den Mann. Projektion: Geschlechtsakt. 2. Die Geburt. Die Frau wird gefesselt und geknebelt. Ihr Bauch schwillt an. Der Mann wird indes von Totenmasken mit Waffen behängt. Projektion: Geburtsakt. 3. Der Tod. Der Mann ist so schwer bewaffnet, dass er sich nur noch auf allen vieren fortbewegen kann. Die Frau nimmt ihr Gesicht ab, zerreißt das Neugeborene und wirft die Teile in Richtung des Mannes. Projektion: Tötungsakt. Auf den Mann fallen Trümmer, Gliedmaßen, Eingeweide.
In diesem Spiel gibt es keine Individuen. Nur der Titel deutet auf den Medea-Mythos. Müller reduziert den Vorgang auf seine Struktur. Das Spiel handelt von dem Kämpfen zwischen dem Mann und der Frau, aber weder der Mann noch die Frau haben die Möglichkeit, selbstbestimmt zu handeln. Beide werden durch die Totenmasken in Rollen geführt, handeln nach Mustern. Die einzige selbstbestimmte Tat in dem Spiel ist die Reaktion der Frau auf die Gewalttat und die Kriegsvorbereitung des Mannes: Indem die Frau die Maske abreißt, zeigt sie ihr individuelles oder ihr »wahres«(?) Gesicht, aber – ihr fällt nichts ein als ebenfalls eine Gewalttat zu begehen. Eine verzweifelte Aktion, zugleich eine Anpassung an Gewaltmechanismen. Auf diese Weise wird die Frau die Wiederholung des Vorgangs nicht verhindern. Beide, Mann und Frau, sind zwar gewalttätig, aber sie sind machtlos in dem Sinne, dass sie Zukunft nicht gestalten können.
Rückführung von Vorgängen auf ihre Struktur – eine von Müllers Schreibstrategien – sehen wir hier geradezu in Reinform. Indem Müller den Zuschauerinnen und Zuschauern die Struktur eines historischen Vorgangs ausliefert, provoziert er sie, Fragen zu stellen. Verläuft Geschichte tatsächlich so? Ist das zwangsläufig? Wofür stehen die Totenmasken? Müller sagte: Die toten Geschlechter lasten auf den Lebenden. Deshalb, so verstehe ich das, müssen wir Lebenden das Studium der Vergangenheitsgeschichte als Auseinandersetzung mit den Toten betreiben. Der Zukunft wegen.
Drittens: Medea-Material (1949-1981/82)
bildet den mittleren und zentralen Teil einer Montage mit dem langen Titel Verkommenes Ufer Medea-Material Landschaft mit Argonauten 18. Müller vollendete, montierte und veröffentlichte sie 1981/82. Das war die Zeit der Raketenstationierung in Europa und der weltweiten Angst vor einem dritten Weltkrieg, einem Atomkrieg. In diesem Kontext liest sich der Text als eine Warnschrift und als eine Zivilisationskritik, die weit über die Belange der DDR hinausgeht. Der ersten Teil Verkommenes Ufer hatte Müller schon im Sommer 1949 geschrieben. Das war 4 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und schon mitten im Kalten Krieg. Damals war Müller 23 Jahre alt und voller Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Welt. Aber er beobachtete sehr genau, was um ihn herum geschah, nicht nur in der Weltpolitik, sondern in der Alltagskultur. In Verkommenes Ufer formuliert er seine Beobachtungen wie Schnappschüsse: Menschen beim Baden an einem See, Männer in der Berliner S-Bahn, pendelnd zwischen Arbeit, Wohnung und Puff, Frauen bei der Hausarbeit, zerstörte Natur, zerstörte zwischenmenschliche Beziehungen, zerstörte Geschlechterbeziehungen – dazwischen Kinder. Eine »Kriegs-Landschaft«, in die er Anspielungen auf das historische Gewordensein einschrieb, Ereignisse aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Assoziationen wecken: Kriegstote, Lustmorde in Chikago, erhängte Deserteure mit dem Schild vor dem Bauch »Ich bin ein Verräter«. Dieser kurze Text endet mit den merkwürdigen Zeilen: »Auf dem Grund aber Medea den zerstückten / Bruder im Arm Die Kennerin / Der Gifte« (S. 74).
Warum kommt Müller in diesem Zusammenhang auf Medea? Warum »auf dem Grund«? Auf dem Grund der Geschichte? Auf dem Grund der Zerstörung? Antworten sucht er in den beiden folgenden Szenen der Montage. Die Szene Medeamaterial hat er in dem historischen Jahr 1968 geschrieben. Es ist der einzige Dialog in dieser Collage. Hier sprechen Figuren, die mythologische Namen tragen: Amme, Jason und Medea. Aber es sind ganz heutige Figuren. Der Beginn des Dialoges, so Müller selbst, könnte das Stenogramm einer heutigen Auseinandersetzung zwischen Eheleuten sein. Gezeigt wird genau der Ausschnitt aus Medeas Leben, der auch in Euripides’ Tragödie gezeigt wird. Als Medea begreift, dass Jasons Entschluss, die Jüngere, Schönere, Reichere und Mächtigere zu heiraten, unumkehrbar ist, möchte sie sterben: »Ich / Bin nicht erwünscht hier Dass ein Tod mich wegnähm«. Jason, genervt, fragt: »Was warst du vor mir, Weib?«, als wäre sie vor ihm ein Nichts gewesen und nur durch ihn etwas geworden. Sie antwortet: »Medea« (S. 75). Damit ist das Leitmotiv für die Szene gegeben, die Identitätsproblematik: Sie war Medea – was ist sie jetzt?
Auch sie beginnt – wie Dascha – , ihre Lage klug zu analysieren: in dieser verzweifelten Situation ein erster Schritt auf der Suche nach ihrer Identität.
Der Auslöser für die Analyse ist sein Verrat an ihr: »Dank für deinen / Verrat der mir die Augen wiedergibt / Zu sehen was ich sah« (S. 76). Verrat und seine historischen Folgen – das ist eines der großen Themen bei Müller.19 Jasons Verrat lässt Medea ihre Vergangenheit klar sehen. Wie etwas Fremdes. Sie begreift: Alles, was sie aus bedingungsloser Liebe für Jason getan hat, war auch ihr Verrat: Sein Sieg über Kolchis, die Kolonisierung ihres Landes, die Unterdrückung ihres Volkes, der Mord an ihrem Bruder, alles war auch ihr Verrat. Und zugleich war es ihr Verrat an sich selbst. Sie hatte aufgehört, Medea zu sein. Sie hatte ihm, so wörtlich, als »Sklavin, Werkzeug, Hündin, Hure, Sprosse auf der Leiter seines Ruhmes« (S. 75) gedient. Er hatte sie erniedrigt und benutzt, aber sie hatte sich ihm freiwillig untergeordnet. Das ist ein wichtiger Punkt bei Müller: die freiwillige Unterordnung der Unterdrückten und Ausgebeuteten unter die Herren.20
Das bezieht er auf Klassen, Ethnien und Geschlechter.
Medeas erster Befreiungsschritt aus dieser Unterordnung ist also, dass sie »sieht«, begreift, erkennt. Der zweite ist, dass sie »abrechnet «: »Heute ist Zahltag Jason Heute treibt / Deine Medea ihre Schulden ein« (S. 79). Je genauer sie Schulden und Schuld analysiert, je öfter er auf ihre Argumente reagiert, um so deutlicher sieht sie: Ihre Lage ist aussichtslos. Medea – das heißt die Rat Wissende. Jetzt ist sie am Ende. Sie greift zum letzten Mittel, zur Gewalt. »Machtverlust «, so Hannah Arendt, verführt »sehr viel eher als Ohnmacht zur Gewalt, als könnte diese die verlorene Macht ersetzen.«21
Medea mordet die Nebenbuhlerin. Dann eine Steigerung ihrer Hilflosigkeit. Sie mordet ihre geliebten kleinen Söhne, die sie plötzlich als »Früchte des Verrats aus deinem Samen«, als ihre »kleinen Verräter« (S. 79) zu erkennen meint. Es ist eine Art Amoklauf, bei dem sie genau reflektiert, was sie tut: »Mit diesen meinen Händen der Barbarin / Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal / Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen / Und wohnen in der leeren Mitte Ich / Kein Weib kein Mann« (S. 79). Frau-Sein, Mann- Sein – die Unerträglichkeit der sozial konstruierten und tradierten Gegensätzlichkeiten – auch das ist ein großes Thema bei Heiner Müller 22.
Was will Medea sein? Ein Neutrum? Ein Ungeheuer? Ein Mensch?
Sie tötet die Kinder mit den Worten: »Küssen würdet ihr die Hand / Die euch den Tod schenkt kenntet ihr das Leben« (S. 79). Aber sie vollendet den Amoklauf nicht, bringt sich nicht selbst um. Als alles vorbei ist, glaubt sie, wieder sie selbst, wieder Medea zu sein: »Oh ich bin klug ich bin Medea Ich« (S. 80). Aber es ist Wahn, Selbstbetrug, Selbstaufgabe. Es ist, zumindest nach meinem Verständnis, ein Bild für die Pervertierung des Individualisierungsprozesses und ein radikales Bild für den Austritt der Frau aus der Geschichtsmächtigkeit durch Anpassung. Anpassung an patriarchal begründete Gewaltideologien und Gewaltpraktiken. – Aber: Diese Art von mörderischer Anpassung bedeutet zugleich auch eine Gefahr für patriarchal fundierte Gesellschaften, insofern sie das Bild, die Praxis und die Identität der domestizierten Frau zerstört. Der dritte Text der Montage Landschaft mit Argonauten beginnt mit der Frage nach der Identität: »Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das« (S. 80). Es ist ein Mann mit Namen Jason, der spricht. Es ist ein Ich, aber, so Müller in einer Anmerkung: »Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv« (S. 84). Es ist der Monolog eines kollektiven männlichen Ich, das Geschichte gemacht und erlitten hat – bis zur letzten Konsequenz, der kollektiven Selbstvernichtung.
Der Monolog besteht – ähnlich wie Verkommenes Ufer – aus einer Aneinanderreihung von Momentaufnahmen: Jasons Leben und Tod. Aber er geht weit darüber hinaus. Er beschreibt Das Leben eines Mannes (S. 81) durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart, von der frühen Kolonialisierung und der welthistorischen Entmachtung der Frau bis zu Panzerschlachten, Flugzeugangriffen, Medienschlachten. Das Leben eines Mannes im Spannungsfeld von Liebessehnsucht, technischem Fortschritt, fortschreitender Vernichtung von Natur und Mensch: »Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten / Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft MEINES Todes« (S. 83). Die Montage ist eine Warngeschichte von historischer Dimension, besonders heute, in der Zeit militärischer, sozialer und politischer Kriege und fortschreitender Umweltzerstörung.
Christa Wolf: Medea. Stimmen. Roman
Im Jahr 1996 erzählte Christa Wolf die Geschichte der Medea wiederum völlig anders. Sie schrieb diesen Roman knapp eineinhalb Jahrzehnte nach Kassandra, ihrem ersten Buch über eine Frau aus der antiken Mythenwelt, in dem sie darüber nachgedacht hatte, wer Kassandra gewesen sein könnte, bevor sie aufgeschrieben wurde. In Medea. Stimmen stellt sie die Frage: Warum und aus wessen Interesse wurde Medea zum Mythos von der Kindermörderin? Christa Wolf benutzt einen großen Teil der im Mythos erzählten Fakten, wertet sie um und erfindet einige Figuren und Vorgänge neu. Und, um es gleich vorwegzunehmen: Bei Christa Wolf tötet nicht Medea ihre Söhne wie bei Euripides, sondern die Korinther steinigen sie – ganz wie in dem uralten Mythos. Die Rezensionen, wiederum vor allem die von männlichen Kritikern aus den alten Bundesländern, waren ziemlich negativ: Warum muss dieses Buch Medea heißen, wenn doch die Frau ihre Kinder nicht umbringt? Außerdem wurde der Roman als Schlüsselroman gelesen: Die Frau aus dem Osten (Kolchis), die in den Westen (Griechenland) kommt, habe sich selbst (Medea) als emanzipierter darstellen wollen als die Frauen im Westen. Sie habe den Osten (die DDR) und sich selbst (kurzzeitige Stasi-Informantin in den fünfziger Jahren) entlasten wollen, indem sie den Westen (Korinth) anklagt, ebenfalls Leichen im Keller zu haben. Und so weiter. Unterm Strich kommt bei vielen heraus: Wir wollen unsere eifersüchtige, rasende Kindermörderin wiederhaben!
Meiner Ansicht nach haben diese Kritiker den Roman mit der Brille der Vorurteile gelesen, die über Christa Wolf nach der Wende in der Öffentlichkeit geschürt wurden. Wer aber mit dieser Brille liest, verbaut sich den Zugang zu dem, was wirklich erzählt wird. Erzählt wird die Geschichte der Medea als die immer und immer wieder und auch gegenwärtig hochaktuelle Geschichte von der dehumanisierenden Macht von Vorurteilen und der Herstellung und Benutzung eines Sündenbocks. Genau genommen erzählt Christa Wolf mehrere Geschichten in einer. Sie erzählt erstens: die Geschichte der politisch interessierten jungen Königstochter Medea, die es aus politischen Gründen in ihrer Heimat Kolchis nicht ausgehalten hat; denn ihr Vater hat seinen Sohn, Medeas Halbbruder, ermorden lassen. Das war in bestimmten Phasen des Übergangs vom Matriarchat zum Patriarchat ein durchaus üblicher Vorgang, der dem Erhalt der eigenen Macht diente.
Wolfs Medea nutzt die Chance zur Flucht mit Jason, bekommt von ihm zwei Söhne und gerät in ein Land (Korinth), dessen König ebenfalls aus Gründen seiner Machterhaltung eine Leiche im Keller hat: die Königstochter Iphinoe. Soweit die Vorgeschichte. Medea entdeckt aus Zufall die Leiche in Korinths Keller. Sie hat nicht die Absicht, diese ihre Entdeckung zu veröffentlichen. Aber sie stellt Fragen. Mit diesem Wissen und ihren Fragen ist sie gefährlich. Gefährlich ist sie auch, weil sie aus Kolchis Haltungen mitgebracht hat, in denen das Matriarchat noch nachklingt: Sie trägt bunte Farben und offene Haare; sie geht ohne Begleitung auf die Straße; sie ist, obwohl mit Jason verheiratet, allein erziehend und hat einen Liebhaber. Alles das könnte befreiend auf die Frauen von Korinth wirken. Und das darf nicht sein. Besonders weil Medea Umgang mit der völlig eingeschüchterten Königstochter Glauke hat und diese zu Selbstbewusstsein ermuntert. Medea, Fremde, emanzipatorisches Vorbild und vertuschten Geschichten auf der Spur – das ist eine potentielle Gefahr. Sie muss beobachtet, überwacht und in Schach gehalten werden.
Als ein Erdbeben das Land Korinth verwüstet und danach wegen ungenügender hygienischer Maßnahmen in den Armenvierteln die Pest ausbricht, wird seitens der Herrschenden angedeutet, das sei eine Strafe der Götter, an der Medea, ihr Lebenswandel, ihre Vergangenheit schuld seien. Sündenböcke gibt es nicht erst im Alten Testament, sondern schon weit vorher, und durch die Jahrtausende hindurch bis heute. Es gibt Sündenböcke, denen kollektive Schuld aufgeladen wird, und solche, denen individuelle Schuld aufgeladen wird. In Korinth wird das Gerücht gestreut, Medea sei die Mörderin ihres Bruders. Christa Wolf erzählt zugleich die Geschichte der Medea als einer Frau, die versucht, als Mittlerin zwischen den Fremden und den Einheimischen zu agieren, indem sie am Leben und an den Feiern beider teilnimmt. Damit gerät sie zwischen die Fronten der auf beiden Seiten aufgebrachten Menge. Christa Wolf beschreibt, wie Wahn, Grausamkeit, Gewalt in unzufriedenen, aufgebrachten, aufgehetzten Massen entstehen und wie leicht der Hass von allen Seiten auf Sündenböcke gelenkt werden kann.
Im Zusammenhang damit beschreibt sie Medeas Konflikt als den Konflikt eines Menschen, der den politischen Anspruch erhebt, Menschenopfer für Götter, Menschenopfer für Machtinteressen, abzuschaffen, und der in die tragische Situation gerät, ein Massaker, Menschenopfer genannt, zu erleben und es nur begrenzen, aber nicht verhindern zu können. Christa Wolf beschreibt, wie Medea wegen einer Tat, die sie nicht begangen hat, vom Korinther Gericht verbannt wird, in die Wüste geht, begleitet von einer Kolcherin, sonst ohne Kontakt zu Menschen. Sie darf ihre Kinder nicht mitnehmen. Diese werden, ganz wie im alten Mythos gesteinigt.
Um diese vielen Geschichten in einer zu erzählen, nutzt Christa Wolf einen Kunstgriff: Sie lässt Stimmen sprechen. Sechs Personen erzählen in elf Monologen den Verlauf der Vorgänge in Korinth jeweils aus ihrer eigenen individuellen Perspektive, beschreiben ihre Interessen, ihre Absichten. So werden nicht nur die Machtgeflechte, die unterschiedlichen Charaktere, Motive, Vorgeschichten erkennbar, sondern klar wird auch, was sie realiter voneinander halten, warum sie jemandem schaden, obwohl sie ihn als Persönlichkeit achten, oder warum sie jemanden fördern, obwohl sie ihn verachten. Christa Wolf schafft es, individuelle Geschichten in ihrer historischen Dimension und Geschichte als Interessen- und Handlungsgeflecht von Individuen zu zeigen. Sie macht nicht nur durchschaubar, warum und wie ein Sündenbock hergestellt wird. Sie macht auch durchschaubar, wie, aus welchen Interessen, mit welchen Mitteln ein Mythos gemacht wird. In diesem Falle ein frauen- und fremdenfeindlicher. Jahre später, als Arinna, die Tochter von Medeas Begleiterin, die beiden verwilderten Frauen in der Wüste gefunden und informiert hat, fasst Medea ihre Erfahrungen zusammen: Die Kinder »Tot. Sie (die Korinther) haben sie ermordet. Gesteinigt, sagt Arinna. Und ich habe gedacht, ihre Rachsucht vergeht, wenn ich gehe. Ich habe sie nicht gekannt. (..). Und die Korinther sollen immer noch nicht fertig sein mit mir. Was reden sie. Ich, Medea, hätte meine Kinder umgebracht. Ich, Medea, hätte mich an dem ungetreuen Jason rächen wollen. Wer soll das glauben, fragte ich. Arinna sagte: Alle (…). Arinna sagt, im siebten Jahre nach dem Tode der Kinder haben die Korinther sieben Knaben und sieben Mädchen aus edlen Familien ausgewählt. Haben ihnen die Köpfe geschoren. Haben sie in den Heratempel geschickt, wo sie ein Jahr verweilen müssen, meiner toten Kinder zu gedenken. Und dies von jetzt an alle sieben Jahre. So ist das. Darauf läuft es hinaus. Sie sorgen dafür, dass auch die Späteren mich Kindsmörderin nennen sollen.«23
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