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Bevor wir an diese im höchsten Grade wichtige Frage herantreten, ist festzustellen, welche Rolle das amerikanische Kapital der Sozialdemokratie in eben jenem Europa zuteilt, das auf Ration gesetzt werden soll. Die Sozialdemokratie erhält den Auftrag – ich sage das keineswegs aus polemischen Gründen –, diese neue Situation vorzubereiten, d.h. dem amerikanischen Kapital bei der Rationierung Europas zu helfen.
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Sie machen Opposition gegen ihre Bourgeoisie als deutsche Sozialpatrioten – nicht vom Standpunkte der proletarischen Revolution und auch nicht einmal vom Gesichtspunkte irgendwelcher Reformen, sondern einzig und allein zu dem Zwecke, die deutsche Bourgeoisie zu entlarven, zu beweisen, dass sie unduldsam, eigennützig, chauvinistisch und unfähig ist, mit dem
amerikanischen, humanen, demokratischen, pazifistischen Kapital einig zu werden. Diese Frage steht jetzt im Mittelpunkte des politischen Lebens Europas und zumal Deutschlands! Mit anderen Worten:
Die europäische Sozialdemokratie verwandelt sich vor unseren Augen in einen politischen Agenten des amerikanischen Kapitals. Kommt das erwartet oder unerwartet? Wenn man sich erinnert, dass die Sozialdemokratie eine Agentur der Bourgeoisie geworden ist [mit den Kriegskrediten 1914 und der blutigen Zerschlagung der deutschen Revolution 1918/19], so wird es klar, dass die Sozialdemokratie, kraft ihrer politischen Entartungslogik zum Agenten der stärksten und mächtigsten Bourgeoisie, der
Bourgeoisie aller Bourgeoisien werden musste. Und das ist eben die amerikanische Bourgeoisie. Soweit das amerikanische Kapital sich zur Aufgabe macht, Europa zu „einigen“, Europa „auszusöhnen“, Europa zu lehren, mit den Reparationsfragen usw. fertig zu werden, soweit das Portemonnaie in der Tasche der amerikanischen Bourgeoisie liegt, soweit wird auch die ganze Abhängigkeit der Sozialdemokratie von der deutschen Bourgeoisie in Deutschland oder von der französischen in Frankreich allmählich auf den eigentlichen zahlungsfähigen Herrn übertragen. Ja, ein Großherr hat sich in Europa etabliert: das amerikanische Kapital. Und es ist nur natürlich, wenn die Sozialdemokratie in eine politische Abhängigkeit zu dem Herrn ihrer Herren gerät.
Wer sich das nicht klarmacht, der wird die Ereignisse von heute und morgen nicht verstehen, der wird nur die Oberflächen sehen und mit Gemeinplätzen Politik machen wollen.
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Die deutsche Sozialdemokratie
kann sich
heute den Luxus der Opposition leisten. Sie kritisiert ihre Bourgeoisie und stellt auf diese Weise zwischen sich und den Parteien des Kapitals eine gewisse „Distanz“ her. Welcher Art ist diese Kritik? Sie sagt: Du bist eigennützig, stupide, bösartig – aber jenseits des Atlantischen Ozeans gibt es eine Bourgeoisie, die erstens
reich und mächtig, zweitens human-reformistisch und pazifistisch ist, die jetzt wieder zu uns kommt, um uns 800 Millionen Goldmark für die Stabilisierung der Valuta zu schenken (das Wort Goldmark wirkt heute in Deutschland sehr überzeugend!). Und du, deutsche Bourgeoisie, hast die Unverschämtheit, dicke zu tun, dich von der amerikanischen Bourgeoisie bitten zu lassen, und das – nachdem du unser liebes Vaterland bis über die Ohren in den Sumpf der Armut gezerrt hast! Wir werden dafür sorgen, dass du von den deutschen Volksmassen in deiner ganzen wahren Nacktheit dastehst! ... Ja, man spricht fast im Ton eines revolutionären Tribunen – man opfert sich eben für die amerikanische Bourgeoisie auf.