Seymour M. Hersh
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Giftgas, Bürgerkrieg und Krieg - Obama, Erdoğan und Syriens Rebellen
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Die Ursprünge von Obamas Sinneswandel finden sich in Porton Down, dem Forschungslabor des britischen Verteidigungsministeriums in Wiltshire. Der britische Geheimdienst hatte Proben des beim Angriff vom 21. August 2013 eingesetzten Sarins in die Hände bekommen und analysiert. Die Analyse ergab, daß das dort eingesetzte Gas von der chemischen Zusammensetzung her keinem der Fertigungslose entsprach, die aus dem chemischen Arsenal des syrischen Heeres bekannt sind. Die Erkenntnis, daß der Vorwürfe gegen Syrien einer näheren Betrachtung nicht standhalten würden, fand umgehend ihren Weg zu den Vereinigten Stabschefs der USA. Der Bericht der Briten verstärkte gewisse Zweifel innerhalb des Pentagons; die Stabschefs waren bereits im Begriff, Obama wissen zu lassen, daß seine Pläne eines umfassenden Schlags gegen Syriens Infrastruktur einen größeren Krieg im Nahen Osten nach sich ziehen könnten. Infolgedessen ließen die Stabschefs ihrem Präsidenten in letzter Minute eine Warnung zukommen, der daraufhin – ihrer Ansicht nach – den Angriff abblasen ließ.
Monatelang schon hatte der militärischen Führung wie auch den Nachrichtendiensten die Rolle von Syriens Nachbarn in diesem Krieg zu denken gegeben, allen voran die der Türkei. Premier Recep Erdoğans Schützenhilfe nicht nur für die dschihadistische Al-Nusra-Front, sondern auch für andere Fraktionen von Syriens islamistischen Rebellen war dort bekannt. „Wir wußten“, sagte mir ein ehemaliger hochrangiger Angehöriger eines amerikanischen Geheimdienstes mit Zugang zu aktuellen Erkenntnissen, „daß es in der türkischen Regierung Elemente gab, deren Ansicht nach man Assad bei den Eiern kriegen könnte, indem man in Syrien einen Sarin-Angriff fingiert – Obama könnte gar nicht anders, als zu seiner Drohung bezüglich der red line zu stehen.“
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Ende 2012 ging man bei den amerikanischen Nachrichtendiensten davon aus, daß die Rebellen den Krieg verloren. „Erdoğan war stinksauer“, sagte der Exgeheimdienstler, „und fühlte sich sitzengelassen. Es war sein Geld, und er empfand die Beendigung der Mission als Verrat.“ Im Frühjahr 2013 erfuhren die amerikanischen Nachrichtendienste, daß die türkische Regierung – über Elemente des türkischen Nachrichtendienstes MIT und der paramilitärischen Jandarma – Hand in Hand mit al-Nusra und deren Verbündeten an der Entwicklung chemischer Waffen arbeitete. „Der MIT sorgte für die politische Liaison mit den Rebellen, und die Gendarmerie war für militärische Logistik, Beratung und Ausbildung zuständig – inklusive Ausbildung in chemischer Kriegführung“, sagte der ehemalige Geheimdienstler. „Im Ausbau ihrer Rolle sah die Türkei im Frühjahr 2013 den Schlüssel zu ihren dortigen Problemen. Erdoğan wußte, wenn er die Unterstützung der Dschihadisten einstellte, wäre alles vorbei. Die Saudis konnten den Krieg aus logistischen Gründen nicht unterstützen – wegen der Entfernungen und der Probleme bei der Bewegung von Nachschub und Waffen. Erdoğan hoffte, ein Ereignis zu inszenieren, das die USA dazu zwingen würde, die red line zu überschreiten. Aber Obama reagierte weder im März noch im April.“
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Ein Berater amerikanischer Geheimdienste sagte mir, er habe einige Wochen vor dem 21. August ein streng geheimes, für Dempsey und den Verteidigungsminister Chuck Hagel bestimmtes Briefing eingesehen, in dem von einer „akuten Angst“ der Regierung Erdoğan hinsichtlich der schwindenden Aussichten der syrischen Aufständischen die Rede war. Die Analytiker weisen darauf hin, die türkische Führung habe „die Notwendigkeit“ zum Ausdruck gebracht, „etwas zu tun, was eine militärische Reaktion der USA lostreten würde“. Ende Sommer 2013 hätte die syrische Armee den Aufständischen gegenüber noch immer alle Vorteile in der Hand gehabt, sagte der ehemalige Geheimdienstler, und allein die amerikanische Luftmacht hätte das Blatt wenden können. Im Herbst, so fuhr er fort, hätten die amerikanischen Nachrichtenanalytiker, die nach wie vor über den Ereignissen vom 21. August saßen, „das Gefühl“ gehabt, „daß Syrien für den Gasangriff nicht verantwortlich war. Die Preisfrage blieb damit freilich, wie es dazu gekommen war? Unmittelbare Verdächtige waren die Türken, weil die sämtliche Teile in der Hand hatten, mit denen so etwas zu bewerkstelligen war.“
Je mehr abgefangene Meldungen und andere Daten mit Bezug zum 21. August man zusammentrug, desto stärker sahen sich die Nachrichtendienste in ihrem Verdacht bestätigt. „Wir wissen jetzt, daß es sich um eine verdeckte, von Erdoğans Leuten geplante Aktion handelte, die Obama über die red line stoßen sollte“, sagte der ehemalige Nachrichtendienstler. „Sie mußten die Situation mit einem Gasangriff in oder in der Nähe von Damaskus eskalieren, während die UN-Inspektoren“ – die am 18. August zur Untersuchung der anderen Giftgaseinsätze eintrafen – „dort waren. Es ging darum, etwas Spektakuläres zu tun. Unsere militärische Führung erfuhr von der DIA und anderen Geheimdiensten, daß das Sarin über die Türkei geliefert wurde – und daß das nur mit türkischer Unterstützung möglich gewesen war. Die Türken sorgten außerdem für die Ausbildung in Sachen Herstellung und Umgang damit.“ Erhärtet wurde diese Annahme zu einem Gutteil von den Türken selbst, so durch abgefangene Unterhaltungen im unmittelbaren Gefolge des Angriffs. „Wesentliche Beweise kamen unmittelbar nach dem Angriff in Form freudiger Gratulationen in zahlreichen abgefangenen Unterhaltungen der Türken. Operationen sind im Planungsstadium immer megageheim, aber damit ist in dem Augenblick Schluß, wenn es bei Gelingen ans Trommeln geht. Nichts macht einen anfälliger, als wenn die Täter den Erfolg für sich beanspruchen.“ Erdoğans Probleme in Syrien würden bald vorbei sein: „Das Gas geht hoch, Obama sagt red line, und Amerika greift Syrien an – oder wenigstens war das der Gedanke dahinter. Aber so ist es dann eben doch nicht gekommen.“