Ratlosigkeit nach der Wahl
Können wir von Italien lernen?
Was jetzt in Deutschland für Aufregung sorgt, war in Italien jahrzehntelang üblich: Die Wahlergebnisse liegen vor, aber keiner weiß, wie es weitergeht. Die Italiener waren es schließlich leid, wählen zu gehen und sich hinterher anzuschauen, wie die Politiker in Rom den Wählerwillen interpretierten. Sie entschieden sich für ein neues Wahlsystem.
Jörg Seisselberg, ARD-Hörfunkstudio Rom
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Bildunterschrift: Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi
Woran sich Deutschland gewöhnen muss, ist in Italien wohlbekannt. Bis in die 90er Jahre war es in Rom üblich, dass nach Stimmenauszählung immer mehrere Kandidaten - wie jetzt in Berlin - sagten: Ich bin der Sieger, nur ich kann das Land führen.
Bei den Jahrzehnte dominierenden Christdemokraten der DC buhlten meist sogar zwei oder drei Politiker aus einer Partei um die Rolle der Nummer eins im Land. In den 80er Jahren wurde dieser in Italien selbstverständliche Koalitionspoker nach Wahlen sogar noch unübersichtlicher. Auch kleine Parteien - wenn sie dazu gewonnen hatten - erhoben plötzlich Ansprüche auf die Position des Ministerpräsidenten - gelegentlich sogar mit Erfolg wie zum Beispiel Bettino Craxi.
Gekungel führte zur Politikverdrossenheit
Koalitionsbildung nicht durch Wählerentscheidung, sondern politische Kungelrunden - bei den Italienern führte dies im Laufe der Jahre zu tiefer Frustration. In den 80er Jahren war die Politikerverdrossenheit so hoch wie nirgendwo sonst in Europa. Weil es immer mehr Italiener leid waren, brav wählen zu gehen und sich hinterher anzuschauen, wie die Machtmenschen in Rom den Wählerwillen, oder was sie dafür hielten, ziemlich frei interpretierten. Und die Koalition zimmerten, die ihnen gerade passte.
Eine solche Regierungbildung durch Gekungel, hat in Italien nicht nur das Ansehen von Politikern und Parteien beschädigt, sondern auch eine Verfilzung der Politik begünstigt. Eine Verfilzung die in den 90er Jahren in einem gigantischen Korruptions- und Schmiergeldskandal mündete.
Für die jahrzehntelangen Probleme, nach Wahlen klare Mehrheiten zu finden, gibt es in Italien vor allem eine grundlegende Ursache: Es existierten am linken und rechten Rand des Parlaments Parteien, mit denen keiner koalieren wollte. Eine deutliche Parallele zur aktuellen Situation in Deutschland - wo es ohne die Linkspartei im Bundestag eine Mehrheit entweder von rot-grün oder schwarz-gelb gäbe.
Konsequenz: Neues Wahlsystem
Die Italiener haben aus dem Dilemma vor gut 15 Jahren die Konsequenz gezogen: Ein neues Wahlsystem muss her. Weg mit dem Verhältniswahlrecht, wie es in Deutschland gilt und nachdem jede Partei gemäß ihrer prozentualen Stärke ins Parlament einzieht. Her mit einem Mehrheitswahlsystem, ähnlich wie in Großbritannien oder Frankreich. Grundprinzip: Wer einen Wahlkreis gewinnt, zieht ins Parlament ein, die Stimmen der Verlierer fallen weitgehend unter den Tisch - eine Wahlmethode, die nach den Lehren der Politikwissenschaft radikale Parteien schwächt.
In Italien ist das Ziel, das Parteiensystem übersichtlicher zu machen, zwar nur teilweise erreicht worden. Zumindest aber hat der Wechsel des Wahlsystems zur Bildung zweier politischer Blöcke (Mitte-Rechts und Mitte-Links) geführt. Mit dem Ergebnis, dass nach den vergangenen drei Wahlen in Italien immer klar war, wer gewonnen und verloren hat und wer das Amt des Ministerpräsidenten übernimmt.
Deutschland kein Vorbild
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Berlusconi im Senat
Kurios: Gerade in den vergangenen Tagen gab es in Rom wieder Diskussionen, zum alten Wahlsystem der 70er und 80er Jahre zurückzukehren - unter anderem weil sich Ministerpräsident Berlusconi davon ein persönlich besseres Wahlergebnis im kommenden Jahr verspricht.
Nach den jetzigen Zahlen aus Berlin aber sagt auch sein zuständiger Minister Calderoli entsetzt: "Lassen wir bloß die Hände von einer Reform nach deutschem Vorbild." Der Ausgang zeige, so Calderoli gestern abend, Deutschland tauge nicht als Modell, das Wahlrecht dort garantiere - trotz Sperrgrenze von fünf Prozent - keine stabile Regierung. In der Tat: Die Koalitions- und Regierungsbildung in Rom ist durch das seit über zehn Jahren geltende Mehrheitswahlsystem mittlerweile einfacher als in Berlin.