Für heftige Kontroversen in der Öffentlichkeit hat in diesem Zusammenhang vor allem die im Jahr 1997 veröffentlichte Studie „Verlockender Fundamentalismus“ von Wilhelm Heitmeyer und seinen Mitarbeitern vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld gesorgt.17
Die Wissenschaftler kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es bei den von ihnen untersuchten türkischen Jugendlichen in Deutschland „ein erhebliches Ausmaß an Islam zentriertem Überlegenheitsanspruch und religiös fundierter Gewaltbereitschaft“ gibt. Zu den wichtigsten Ursachen gehören demnach die erlebte fremdenfeindliche Gewalt, die Verweigerung der Anerkennung einer kollektiven Identität durch die Mehrheitsgesellschaft, konkrete Diskriminierungserfahrungen im privaten Bereich, die negativen Folgen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse,
der Rückzug in die eigene ethnische Gruppe, die Betonung einer auf Abgrenzung ausgerichteten national und religiös begründeten Identität, die Ablehnung „moderner“ Erziehungswerte und ein hohes innerfamiliäres Konfliktpotenzial. Der religiös fundierten Gewaltbereitschaft liegt nach Auffassung der Autoren „ein emotional hoch aufgeladenes Ursachenbündel aus individualbiographischen, sozialen und politischen Aspekten“ zugrunde, das zwar nicht zwangsläufig in Gewalthandlungen mündet, aber eine entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit erfordert (vgl. Heitmeyer et al. 1997). Karin Brettfeld und Peter Wetzels haben in einer kriminologischen Analyse zur Alltagsrelevanz von Religion und den Zusammenhängen mit Gewalt einen Datensatz
ausgewertet, der auf repräsentativen Befragungen von 14- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schülern beruht, die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in vier Großstädten und einem Landkreis durchgeführt wurden.18
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass muslimische Jugendliche unter den jungen Migranten die am stärksten sozial benachteiligte und am schlechtesten sprachlich-sozial integrierte Gruppe sind. Sie sind sehr viel häufiger von innerfamiliären Gewalthandlungen betroffen als Jugendliche anderer religiöser Gemeinschaften und
überdurchschnittlich stark durch traditionelle Geschlechtsrollenorientierungen und eine stärkere Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen geprägt. Starke religiöse Bindungen gehen zudem bei jungen Muslimen mit einer geringeren sprachlich-sozialen Integration, einer deutlich größeren Akzeptanz von Gewalt als Erziehungsmittel sowie einer stärkeren Verbreitung traditioneller Geschlechtsrollen- und Männlichkeitskonzepte einher, „was gewaltsames Handeln in Konfliktsituationen wahrscheinlicher werden lässt“ (Brettfeld/Wetzels 2003: 305). Die Analyse von Brettfeld und Wetzels (2003: 306) zeigt,
„dass muslimische Jugendliche sowohl auf der Einstellungs- als auch auf der Verhaltensebene eine deutlich stärkere Neigung zu Gewalt erkennen lassen“. Zu den wichtigsten Ursachen gehören die Differenzen in der sozialen Lage, insbesondere Unterschiede in den Bildungserfolgen und den Zukunftsperspektiven, aber auch das elterliche Erziehungsverhalten, die familiären Sozialisationserfahrungen und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen.
Während „eine starke religiöse Bindung innerhalb der verschiedenen religiösen Gruppen tendenziell einen Schutzfaktor darstellt, der dazu beiträgt, dass die Jugendlichen weniger stark aktiv gewalttätig sind“ (ebd.: 301), ist dieser Schutzfaktor bei muslimischen Jugendlichen auf der Einstellungsebene überhaupt nicht und auf der Verhaltensebene nur schwach ausgeprägt.