«Wir glauben nicht an Selbstmord»
Florian Heilig w ar ein wichtiger Zeuge im Mordfall der Polizistin Michèle Kiesewetter.
Mitte September soll sich der 21-Jährige umgebracht haben, am Tag seiner Vernehmung
durch das LKA. Für seine Eltern spricht alles gegen einen Suizid.
Am 16. September 2013 verbrannte Ihr Sohn in Stuttgart in seinem Auto. Die Polizei sagtr es
war Selbstmord. Und Sie?
Mutter Heilig: Wir glauben nicht an Selbstmord.
Mein Mann und ich nicht, unsere Kinder nicht, nie*
mand von seinen Freunden.
Vater Heilig: Die Polizei sagt, Florian habe sich aus
Liebeskummer umgebracht. Aber das ist totaler Blöd*
sinn. Er war glücklich mit seiner Freundin. Am Samstag
nach dem Tag, an dem er gestorben ist, wollten sie es
eigentlich ihrem Vater sagen, dass sie ein Paar sind.
Mutter: Florian war rundum zufrieden. Er hatte eine
Lehrstelle bei uns im Ort gefunden, bei der Firma, in
der auch sein Bruder arbeitet. Stahlbetonbauer war
sein Traumberuf, schon immer gewesen. Entspre*
chend war er hoch motiviert und brachte nur gute No*
ten nach Hause. Er bekam stets gute Rückmeldungen
von seinen Kollegen. Und für ein Auto hatte er sich
auch schon entschieden.
Hat die Polizei Beweise für die Selbstmordthese vorgelegt?
Mutter: Uns nicht. Wir beben keinen Autopsiebericht
bekommen, kein Ergebnis der kriminaltechnischen
Untersuchung, keine angeblich existierenden Fotos
und Videoaufnahmen. Nicht einmal die Sterbeurkun*
de war - wie ansonsten üblich, um Verwechslungen
auszuschließen - bei der Leiche, sondern musste von
unserem beauftragten Bestatter in Tübingen abgeholt
werden. Dafür sind Fotos des verbrannten Körpers von
Florian in der Presse aufgetaucht.
Vater: Und das Autowrack. Als wir es abgeholt ha*
ben, sagten uns die Beamten, es sei nichts darin si*
chergestellt worden. Wir haben nur wenige Momente
gebraucht, um sein Handy und den Laptop zu finden.
Wieso wurden diese wichtigen Beweismittel nicht
untersucht? Oder war der Polizei über Telekommu*
nikationsüberwachung ohnedies alles bekannt, was
sich auf den Geräten befand?
Mir kommt es seltsam vor, dass ein Mensch sich
auf die denkbar komplizierteste und schmerz*
hafteste Weise umgebracht haben soll: Indem
er sich in seinem Auto verbrennt.
Mutter: Das ist völlig unglaubwürdig. Florian hatte
zunächst eine Lehre als Krankenpfleger begonnen.
In dieser Zeit hat er Wissen angehäuft, mit dem man
sich sicher weitaus weniger schmerzhaft das Leben
hätte nehmen können.
Spuren am Autowrack
Vater: Da jetzt das Autowrack in unserem Besitz ist,
konnten wir es persönlich in Augenschein nehmen,
und dabei sind uns einige Punkte aufgefallen. Florian
soll den Innenraum mit Benzin aus einem Kanister ge*
tränkt, sich dann reingesetzt und mit einem Feuerzeug
in Brand gesteckt haben. Aber wo ist der Kanister?
Angeblich verschmort, aber es gibt keine Schmorres-
te. Und warum hat der Fahrersitz, auf dem unser Sohn
gesessen hat, keine Brandspuren? Und warum haben
wir die Schuhe unseres Sohnes und andere persönli*
che Gegenstände zurückbekommen - aber nicht die
Autoschlüssel? Angeblich sollen die durch die hohen
Brandtemperaturen verschmolzen sein. Warum ist
dann aber das Zündschloss nicht verschmolzen? Hat
man den Schlüsselbund von Florian einbehalten, weil
da noch andere interessante Schlüssel dran waren?
Mutter: Überhaupt ist seltsam, dass die Polizei
als Todeszeitpunkt die lange Spanne von 20.30 Uhr
abends bis 9:17 Uhr am nächsten Morgen angibt.
Ich begreife die lange Spanne für den Todeszeit*
punkt auch nicht. Das explodierende Auto wur*
de doch am Morgen kurz nach 9 Uhr gesehen,
dann kam die Feuerwehr, damit ist doch der To*
deszeitpunkt minutengenau eingrenzbar. Oder
sollen die fast 12 Stunden Zeitspanne andeuten,
dass die Polizei nicht w eiß, ob Florian vorher
gestorben ist und dann nur seine Leiche in den
Wagen gelegt und angezündet wurde?
Mutter: Das wissen wir nicht. Die Polizei gibt uns
keinerlei Informationen. Zum Beispiel muss anhand
von Florians Handy-Daten ein Bewegungsprofil für die
Stunden vor seinem Tod erstellt worden sein, und es
hat sich sicher auch ermitteln lassen, mit wem er um
Mitternacht telefoniert hat. Aber die Polizei gibt das
nicht preis und sagte uns gegenüber immer wieder,
es gebe «kein öffentliches Interesse» an weiteren
Untersuchungen in seinem Fall.
Vater: Nochmal zum Benzinkanister: Die Polizei sagte
zuerst, er habe ihn kurz vor der Tat in einer nahegele*
genen Tankstelle gekauft. Dazu gebe es ein Überwa*
chungsvideo. Als wir das Video sehen wollten, wurde
die Geschichte geändert: Der Kanisterkauf habe einige
Stunden zuvor stattgefunden, hieß es plötzlich. Aber
auch das kann unserer Meinung nach nicht stimmen.
Florian fuhr nämlich mit 50 Euro zu Hause los. Von der
Polizei bekamen wir genau 36,07 Euro, eingeschweißt
in Folie, zurück. Von den fehlenden 13,93 Euro hätte er
aber nicht einen großen Benzinkanister und, wie von
der Polizei behauptet, zehn Liter Sprit kaufen können
Der Heilbronner Untergrund
Am Tag, als Florian starb, hätte Florian noch mal
einen Termin beim LKA Stuttgart gehabt, es ging
w ie bei früheren Vernehmungen um den Hin*
tergrund des Mordes an der Polizistin Michèle
Kiesewetter 2007, der dem NSU zugeschrieben
wird.
Vater: Das ist etwas komplizierter gewesen. Die Ver*
nehmung beim LKA wäre an jenem 16. September erst
um 17 Uhr gewesen. Das brennende Auto wurde aber
bereits um 9:13 Uhr morgens entdeckt. Es ist unklar,
warum sich Florian schon in der Nacht zuvor auf den
Weg nach Stuttgart gemacht hat.
Mutter: Er ist am Vorabend etwa um 18 Uhr nach
Geraldstetten gefahren. Dort befindet sich das Wohn*
heim, in dem die Lehrlinge während der Schulzeit
übernachten. Bevor er losfuhr, bekam er einen Anruf,
der ihn total verstört hat. Er sagte zu mir nur: «Ich kom*
me aus dieser Scheiße nie wieder raus.» Er brachte
seine zwei Kollegen nach Geraldstetten, aber blieb
nicht dort, sondern fuhr weiter. Wohin, warum - das
wissen wir nicht.
Vater: Und am nächsten Morgen war er tot. Aber es
gibt ein klares Indiz, dass er trotz des verstörenden
Anrufes an jenem Abend keine Selbstmordabsichten
hatte. Er kam, kurz nachdenp er losgefahren war, noch*
mal nach Hause zurück, um seine Sicherheitsschuhe
zu holen, die er als Stahlbetonbauer brauchte. Offen*
sichtlich ging er selbst felsenfest davon aus, dass er
am nächsten Tag arbeiten würde.
Woher hatte Florian Erkenntnisse über die Er*
mordung von Michèle Kiesewetter?
Mutter: Weil er tief in der rechten Szene drin war. Für
uns als Eltern ist aber ganz wichtig zu betonen, dass
es sich hierbei um eine kurze Phase in seinem Leben
handelte, die zum Zeitpunkt seines Todes schon fast
zwei Jahre vorbei war. Im wesentlichen dauerte diese
Phase nur von Oktober 2010 bis August 2011, als er
seine Lehre im städtischen Krankenhaus in Heilbronn
machte. Dort kam er mit Neonazis in Kontakt. Als er
nach knapp einem Jahr wieder nach Hause kam legte
er diese Einstellung Stück für Stück ab. Er hat alle
Kontakte nach Heilbronn abgebrochen und sich einen
komplett neuen Bekanntenkreis gesucht. Seine Freun*
din war Kroatin, sein bester Freund Türke, und als wir
zusammenkamen, um ihn zu verabschieden, waren
unter den 80 Trauergästen Punks, Gothics, Antifas,
Migranten - aber keine Rechten.
Vater: Entscheidend ist, dass Florian schon im Mai
2011 beim LKA aussagte und von einem Treffen in
Öhringen berichtete, bei dem Mitglieder des NSU mit
einer weiteren neonazistischen Zelle zusammenge*
kommen ist, der sogenannten Neoschutzstaffel oder
NSS.
Die Auftraggeber
Mai 2011 - das w ar ein halbes Jahr, bevor die
Namen des Trios bekannt wurden und bevor die
Welt von der Existenz des NSU erfahren sollte -
eine Sensation!
Mutter: Ja, wenn die Behörden mit diesen Informati*
onen etwas hätten anfangen wollen. Als unser Sohn
nach dem offiziellen Selbstmord von Uwe Mundlos
und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 aus den
Medien vom NSU erfuhr, sagte er zu mir: «Das war
alles ganz anders. Die Presse lügt doch nur. Das wur*
de von höherer Stelle organisiert. Ihr könnt Euch gar
nicht vorstellen, wie viele Beamte und hochgestellte
Rechtsanwälte, ja sogar Politiker in diese Sache ver*
wickelt sind.» Und er meinte damit nicht Politiker der
NPD!
Haben Sie nicht nachgebohrt, was er über die
Ermordung von Michèle Kiesewetter weiß?
Vater: Er hat Nachfragen immer abgewehrt. Er hat ge*
sagt: «Es ist besser für euch, wenn ihr es nicht wisst.
Sonst seid ihr in derselben Gefahr wie ich.»
Mutter: Einmal, als er noch in der rechtsradikalen
Szene war, zeigte er mir eine Art Auftragszettel. Da
standen links alle möglichen Einsätze drauf, die er
machen musste - dem und dem Angst machen, den
Soundso zusammenschlagen - und rechts standen die
Summen, die er jeweils dafür bekommen sollte.
Wurde Florian schon vor seinem Tod bedroht?
Vater: Ja. Wir haben zwei Autos. Da Florian bei uns
wohnte, benutzte er beide mit. Etwa sechs bis acht
Wochen vor seinem Tod waren an dem einen Auto
die Bremskabel durchgeschnitten. Kurz danach waren
an einem Vorderreifen des anderen die Radmuttern
gelockert. Als Florian das mitbekam, war er furchtbar
erschreckt.
Mutter: Was uns im Nachhinein noch aufgefallen ist:
Als Florian noch lebte, lagen immer eine Menge Ziga*
rettenstumpen mit weißem Filter vor unserem Haus.
Seit er tot ist, hat das aufgehört.
Glauben Sie, Sie erfahren noch einmal die
Wahrheit über den Tod Ihres Sohnes?
Vater: Jedenfalls nicht von der Polizei. Die zwei Kri*
po-Beamten, die noch am Todestag zu uns kamen und
uns befragten, beklagten sich später, dass sie keiner*
lei Informationen vonseiten des Bundeskriminalamtes
und vom Aussteigerprogramm Big Rex bekämen. Da
wird die Aufklärungsarbeit behindert.
Mutter: Florian bleibt in unseren Herzen. Er ist imrw
präsent. In unserem Haus, das er mit renoviert hat, sehe
ich überall seine Spuren. Diese Erinnerung bleibt. ■