Erweiterung und Integration: Bosnien-Herzegowinas in Österreich-Ungarn
Bosnien-Hercegovina waren bis 1878 Randprovinzen des Osmanischen Reiches, die über
Jahrhunderte durch ein islamisches Gesellschaftssystem geprägt worden waren. Durch den
Berliner Kongress wurden sie auf Beschluss der Großmächte der Verwaltung Österreich-
Ungarns unterstellt, und völkerrechtlich formal 1908 annektiert Die habsburgische
Verwaltung verstand es nach anfänglichem Widerstand unter den bosniakschen Eliten
Akzeptanz zu erreichen, und zugleich auch strukturelle Wandlungs – und
Verwestlichungsprozesse auszulösen. Worin lag der gemeinsame Erfolg von Österreicher und
Bosniern begründet? Ich will mit Ihnen in Kürze thesenartig drei Bereiche ansprechen und
kritisch diskutieren: Erstens der Umgang mit dem tradierten Strukturen und dem religiösen
Erbe, zweitens der Erfolg der gesellschaftlichen Modernisierung, drittens die Herausbildung
der nationalen Identitäten.
Der Umgang mit tradierten Strukturen und religiösem Erbe: Anders als etwa im Gefolge
der Balkankriege kam es bei der Okkupation Bosniens 1878 nicht zu ethnischen Säuberungen.
Da das habsburgische Militär vielmehr die Unversehrtheit der Bewohner, die vorgefundene
Eigentumsordnung, und die religiöse Institutionen beschützte, hielt sich Abwanderung in das
„Haus des Islam“ denn auch in Grenzen. Bosniakische Theologen wie der Mufti von Tuzla
Azapagic erklärten diese für unnötig, da den Muslimen unter dem Kaiser weiterhin die
Ausübung ihrer Verpflichtungen möglich war.
Die osmanischen Gesetze und
Verwaltungsstrukturen blieben vorerst in Kraft, bis 1908 unterstand Bosnien formal weiterhin
der Oberhoheit des Sultans. Insbesondere bleib der Besitzstand der bosniakischen adeligen
Grosgrundbesitzer gegen die serbischen Forderungen nach einer Agrarreform unangetastet.
Zweifellos hat diese sanfte aber lange Transition einer ganzen Generation das
Hinüberwachsen in die Verwestlichung erleichtert. Der völkerrechtliche Sonderstatus half
zudem die aus dem Mittelalter tradierte Eigenständigkeit zu schützen und in moderne
politische bzw. institutionelle Formen zu überführen. Dafür musste das Land nun allerdings
auch seinen Haushalt eigenverantwortlich schultern. Zwar halfen Kredite aus Wien bzw. die
österreichische Armee und andere Investoren die Modernisierungskosten zu stemmen, doch
die ungelöste Statusfrage bedingte auch Zurückhaltung bei Banken und Unternehmen.
Gravierend war die politische Integrationshürde in der Pass- und Staatsangehörigkeitsfrage,
auch die Schritte zur Erarbeitung einer Verfassungsordnung sowie die Konstituierung des
Parlaments erst 1910, führten die Bosnier viel zu spät an die politische Partizipation heran.
Das lange Zögern in der Statusfrage weckte bei manchen Muslimen Illusionen, zugleich aber
wurden die Begehrlichkeiten Serbiens bzw. Russlands so konserviert und der Konflikts mit
diesen bis ins Jahr 1908 hinein verlängert.
Ein Merkmal österreichischer Politik war es, die Spitzen der Konfessionen als Gegengewicht
zum säkularen Nationalismus in ihr Herrschaftssystem einzubeziehen. Dazu wurden neue an
das Land gebundene Strukturen aufgebaut, so bei den Muslimen der von Istanbul
unabhängige reis uleima als geistliches Oberhaupt seit 1882, und eigene Bischöfe bei
Orthodoxen und Katholiken.
Aus politischer Klugheit verzichtete die Landesverwaltung trotz
anderer Erwatungen und Unterstellungen auf die Privilegierung der Katholiken. Vielmehr
wurde gerade die bosniakische Elite gezielt umworben, so beim orientalisierenden Stil
öffentlicher Gebäude, oder der Errichtung einer modernen islamischen Hochschule,
tatsächliche normative Konflikte beschränkten sich auf die wenigen Mischehen und
Konversionen. Die insgesamt religionsfreundliche Strategie bedeutete freilich auch, dass das
Schulwesen weitgehend den Glaubensgemeinschaften überlassen blieb, bzw. sich die
Landesverwaltung hier mit Einführung weniger Schulen nach europäischem Modell begnügte.
Auf diese Weise wurde bei der wohlgesonnenen muslimischen Bevölkerungsgruppe in
gravierende Qualitätsmängel der Ausbildung, insbesondere der Mädchen nicht eingegriffen,
obwohl das Bestehen reformierter islamischer Schulen zeigte, dass hier nicht theologische
Bedenken sondern traditioneller Immobilismus im Wege standen. In den serbischen Schulen
dagegen wurde vielfach das nationalistische Curriculum aus Serbien eingesetzt, ebenso
gingen viele Studenten auf der Suche nach säkularer Bildung nach Belgrad und Zagreb und
wurden dort mit nationalistischen Ideen infiziert.
Vor dem Hintergrund dieses behutsamen, manchmal vielleicht übervorsichtigen Umgangs mit
den regionalen Verhältnissen, leistete die österreichisch-ungarische Administration bei der
strukturellen Modernisierung des Landes Bedeutendes. Das betraf zunächst überhaupt die
stückweise Einführung einer europäischen Bürokratie und Verwaltungsstruktur, mit eigenen
Abteilungen für Wirtschaft, Gesundheit, Kultur usf., -gegenüber der osmanischen Zeit wuchs
der Bestand an regionalen Beamten von 120 auf über 9000. Ein großer Teil von ihnen konnte
offenbar die Landessprache oder eignete sich diese rasch an, hier wie in andren
Zusammenhängen wirkte die Nähe zu Kroatien begünstigend. Ein Vorteil war die zügige
Einführung der Währungs- und Zollunion, sogar die Einziehung zum gemeinsamen Militär
erwies sich im Nachhinein als wichtiger Integrationsschritt. Die k.uk. Verwaltung brachte
Bosnien auch wörtlich auf den Weg nach Europa, indem 1000 km Strassen, 250km Eisenbahn
und ein Telegraphennetz gebaut wurden. Anders als in den überseeischen Kolonialimperien
wurden Wien, Budapest oder auch Graz und Zagreb für die Bosnier erreichbar, Experten,
Studenten, Soldaten, Kaufleute und Künstler beförderten bald die Zirkulation von Waren und
Ideen aus dem „nahem Westen“. Schwieriger war die Entwicklung der Wirtschaft selbst. Für
eine Professionalisierung und Kapitalisierung der begluk-Güter zu modernen
landwirtschaftlichen Farmen fehlte es, abgesehen von der Bodenqualität, an Kapital, know
how und unternehmerischer Gesinnung, umgekehrt hielt die Konservierung des
postosmanischen Spätfeudalismus die meist serbischen kmeten in unproduktiver Renitenz auf
dem Land fest. Zur tatsächlichen Überwindung der Rückständigkeit der bosnischen
Landwirtschaft hätte es weit aus mehr Kapital und Investitionen bedürft. Weniger Rücksichten
musste man bei der Industrieansiedlung, nehmen notfalls durch die Anlage von
Staatsbetrieben. Kohle, Kupfer und Eisenerzbergwerke wurden in Betrieb genommen,
besonders um Banja Luka entstanden holzverarbeitende und in Tuzla chemische Industrien. In
manchen dieser Betriebe waren auch Frauen beschäftigt, etwa in den Zigaretten- und
Teppichfabriken Sarajevos. 1912/13 arbeiteten bereits 65000 Menschen in der Industrie.
Unter anderem aus dem Holzgeschäft –1902 25% der österreichischen Holzausfuhr
insgesamt-- erzielte das Land damals Exporteinnahmen im Umfang von 28 Millionen Dollar.
Nicht minder bedeutungsvoll waren die Aufholungs- und Anpassungsvorgänge im kulturellen
Bereich. Architektonische Ringstrassen-Adaptionen, Straßenbahn und Jugendstil, europäische
Bekleidungsmoden, Anfänge der Malerei, aber auch Veränderungen im Freizeitbereich, vom
Museum, Tanz, Orchestern und Theater bis zum Pferderennen, waren Symbole eines
tiefgreifenden aber geschickt moderierten Wandels im Leben besonders Sarajevos, aber auch
mancher Provinzstädte. Die Bauten aus dieser Zeit, alte Postkarten und Fotografien, oder auch
die Reklameseiten der im Landesmuseum aufbewahrten Zeitungen erzählen davon.
Trotz dieser Erfolge und trotz der kulturellen Rücksichtnahmen sah sich die habsburgische
Verwaltung vom ersten bis zum letzten Tag herausgefordert von der Gefahr des serbischen
Nationalismus, was bekanntlich in der Julikrise 1914 und dem ersten Weltkrieg kumulierte.
Für dessen Dynamik war freilich weniger als heute angenommen wird, die orthodoxe Kirche
verantwortlich, als vielmehr die zunehmende Verbindung mit sozialen Populismus, damals im
Sinne der Durchführung einer Landreform zugunsten der serbischen Kleinbauern. Die im
wesentlichen konservative, auf den einheimischen Adel und die Kirchen gestützte Strategie
der Habsburger erlaubte es zudem jugoslawischen, effektiv aber proserbischen Organisationen
wie der Mlada Bosna, sich mit der Aura des Modernen und Fortschrittlichen zu schmücken.
Den kroatischen Nationalismus dagegen förderte die Landesregierung keineswegs, nur war
dieser politisch und erst recht militärisch viel weniger gefährlich- zielte er doch meist nur auf
Trialismus, d.h. die Schaffung einer kroatischen Entität innerhalb der Dopelmonarchie, ohne
deren Bestand in Frage zu stellen. Klar gesagt werden muss dass der kroatische und serbische
Nationalismus zwar Konzepte waren, die ursprünglich außerhalb Bosniens formuliert waren.
Doch ihr Erfolg lag selbstverständlich darin begründet, dass solche Ideen in Bosnien an das
milet-system des Osmanischen Reiches angeknüpft wurden, welches die Bevölkerung bereits
seit jahrhunderten entlang der Konfession sortiert hatte – und zwar im Sinne eines kulturellen
Zeichensystems, welches tief in das Alltagsleben der Menschen eingeschrieben war. Die k.u.
k.-Verwaltung bemühte sich jahrzehntelang vergeblich diese Prägung durch einen
konfessionsübergreifenden Bosniakentum zu ersetzten, im Sinne eines Landespatriotismus,
unter Bezug auf die nun intensiv unter anderem vom Landemuseum erforschte mittelalterliche
Geschichte. Doch ein Erfolg im Sinne der angestrebten Zielsetzungen stellte sich nicht ein.
Nach der Jahrhundertwende gaben die Landesverwaltungen vielmehr schrittweise dem
Verlangen nach der Genehmigung serbischer kroatischer und bosnisch- muslimischer
Verbänden und Parteien nach, bis der ethnische Proporz sogar in der Verteilung der
Landtagsitze festgeschrieben war. Doch ohne Widerhall blieben die Bestrebungen der k.u.k-
Verwaltung nicht: Denn ein Teil der muslimischen Elite griff das Bosniakentum durchaus auf
und reklamierte dieses Identitätskonzept für sich. Durch die Aneignung der Geschichte des
bosnischen Mittelalters, und das Bekenntnis zur bosnischen Sprache und Kultur, veränderte
sich deren öffentliches Selbstbild gegenüber der angeblich rein konfessionellen Identität
während der Osmanenzeit durchaus. Von den damals eröffneten diskursiven Prozessen, wie
sie insbesondere in der von Mehmed Beg Kapetanovic herausgegebenen Zeitschrift
„Bosnjak“ dokumentiert sind, führt ein rekonstruierbarer Pfad bis zur Ausrufung der
Unabhängigkeit 1992 unter dem Lilienbanner. Für die Bosniaken eröffnete sich durch die
Beschäftigung mit dem bosnischen Mittelalter ein in der muslimischen Welt einzigartiger
Weg, ihre sehr spezifische Gesichte als Teil einer originär europäischen Entwicklung zu
verstehen und zu interpretieren.
Mit der k.u.k-Zeit gibt Bosnien, trotz einiger Defizite, und unter sicherlich schon seit dem
Mittealter besonderen historischen Vorraussetzungen, ein Beispiel für die erfolgreiche und
relativ zügige Integration einer muslimisch geprägten Gesellschaft in europäische Strukturen.
Gemessen am Ausmaß des Systemwechsels 1878 bewiesen Teile der bosniakische Elite, zwar
auch ein beträchtliches Beharrungsvermögen in konfessionellen Fragen, zum Teil aber auch,
in einer Situation unvermeidlich gewordener Modernisierung, ein im historischen Vergleich
beachtliches Anpassungsgeschick.
Indem die österreichische Verwaltung ihrerseits auf
konfessionelle Engstirnigkeit verzichtete, und die Eigentumsordnung sicherte fand sie eine
muslimische Bevölkerung vor, welche dem z. T. tiefgreifenden gesellschaftlichen und
ökonomischen Wandel, der „Europäiserung“, vielfach mit überraschender Offenheit
gegenüberstand.