Frankreich sagt Nein zur EU-Verfassung
Die Franzosen haben Hochrechnungen für das französische Fernsehen zufolge die EU-Verfassung abgelehnt. Demnach stimmten zwischen 54,5 und 55,6 Prozent gegen das Vertragswerk. Die klare Entscheidung gilt als schwere Niederlage für Staatspräsident Jacques Chirac.
Jean-Pierre Raffarin bei der Stimmabgabe
Jean-Pierre Raffarin bei der Stimmabgabe
Die Wahlbeteiligung lag bei rund 70 Prozent. Alle Umfragen der vergangenen Wochen hatten einen deutlichen Sieg der Verfassungsgegner vorausgesagt. In Brüssel wurde davon ausgegangen, dass der Ratifizierungsprozess trotz des Scheiterns in Frankreich zunächst fortgesetzt wird. Bisher gilt als Grundlage der Vertrag von Nizza, mit dem Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat schwerer zu erreichen sind als mit der Verfassung. Schon am Mittwoch stimmen die Niederländer über die Verfassung ab, auch dort wird jedoch mit einem Nein gerechnet.
Als neuntes Land in der EU hatte Deutschland am Freitag den Text ratifiziert. Sollten die Franzosen die EU-Verfassung ablehnen, ist der Vertrag gescheitert, weil alle 25 EU-Staaten zustimmen müssen. Die Verfassung soll in der EU Mehrheitsentscheidungen erleichtern, die gemeinsame Außenpolitik stärken und dem Europaparlament mehr Rechte geben.
Wiederholung der Abstimmung nicht ausgeschlossen
Gegner wie Befürworter der EU-Verfassung versuchen über Kampagnenplakate, die Bevölkerung zu mobilisieren
Gegner wie Befürworter der EU-Verfassung versuchen über Kampagnenplakate, die Bevölkerung zu mobilisieren
In französischen Überseegebieten wie Martinique, Gouadeloupe und Französisch-Guyana, wo bereits am Samstag abgestimmt wurde, lag die Beteiligung nach den Angaben des Innenministeriums unter 30 Prozent.
Der Ratifizierungsprozess in der EU wird wohl zunächst weitergehen . In Brüssel wurde zuletzt auch eine Wiederholung der Abstimmung in Frankreich nicht ausgeschlossen. Das hat auch Valéry Giscard d'Estaing angeregt, der als Präsident des Verfassungskonvents das Vertragswerk maßgeblich mit ausgearbeitet hat.
Breites Bündnis für ein "Nein"
Bilderserie: Von dummen Schafen und blöden Kühen
Die EU-Verfassung, die bereits von zehn der 25 EU-Staaten ratifiziert worden ist, hat Frankreich tief gespalten. Staatspräsident Chirac und sein konservativer Premierminister Jean-Pierre Raffarin haben für die Annahme des Vertrags geworben, ebenso wie der Vorsitzende der oppositionellen Sozialisten (PS), François Hollande.
Dagegen formierte sich ein breites Bündnis. Linke Verfassungsgegner wie die Kommunisten und der ehemalige sozialistische Premierminister Laurent Fabius kritisierten, die Verfassung ebne einem wirtschaftsliberalen Europa und dem Abbau sozialer Standards den Weg. Auch der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen und rechte Souveränisten wie Philippe de Villiers machten Front gegen die Verfassung.
Verheugen sieht keine EU-Krise
Günter Verheugen erwartet keine gravierenden Folgen durch ein "Nein"
Günter Verheugen erwartet keine gravierenden Folgen durch ein "Nein"
Von dem Nein der Franzosen erwarten deutsche Politiker keine gravierenden Folgen. Weder EU-Kommissar Günter Verheugen noch der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, rechneten vor der Abstimmung mit einer umfassenden Krise der Europäischen Union. Verheugen sagte der "Neuen Presse" in Hannover, auch bei einem Scheitern des Verfassungsreferendums in Frankreich "muss die EU nicht in anderen Bereichen außer Tritt geraten. Das Gegenteil kann der Fall sein".
Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, beklagte, in Frankreich werde die Volksabstimmung zu eng mit der Innenpolitik verknüpft. Das Referendum sei "ganz stark geprägt von einer sicherlich berechtigten Unzufriedenheit der französischen Bevölkerung mit Ministerpräsident Raffarin und Staatspräsident Chirac", sagte Schulz im Norddeutschen Rundfunk.
Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, Matthias Wissmann, sprach von einer mittleren Krise, die ein Nein in der EU auslösen könne. Ohne Frankreich, das in den vergangenen 20 Jahren als "Herzland" der EU deren Entwicklungsprozess mitbestimmt habe, würde der Motor der Union stottern, sagte der CDU-Politiker im Deutschlandradio Kultur.
ftd.de, 22:03 Uhr
© 2005 Financial Times Deutschland, © Illustration: AFP, AP
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