In den 1990er und Anfang der 2000er Jahre migrierten sogenannte "jüdische Kontingentflüchtlinge" aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland. Wie kam es zu der jüdischen Migration? Was bewirkte sie? Und wie hängen die Migration von jüdischen Kontingentflüchtlingen und von Russlanddeutschen miteinander zusammen?
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Die sowjetischen Juden haben mit ihrer Auswanderung Fakten geschaffen. Allein 1989 sind mindestens 50.000 Personen ausgereist, vor allem nach Israel und in die USA – und sogar nach Deutschland. Juden kamen sowohl nach West-Berlin als auch mit Touristenvisa nach Ost-Berlin. In den Jahren 1989 bis 1990 bekannten sich die letzten Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) unter Hans Modrow und Lothar de Maizière zur Verantwortung für die deutsche Geschichte. Sie sprachen sich dafür aus, "jüdischen Bürgern, denen Verfolgung oder Diskriminierung droht", im Sinne des "Asyls für Ausländer" aus "humanitären Gründen" Aufenthalt zu gewähren.[1] Weder waren die Juden aus dem "Bruderland" UdSSR verfolgt noch sah das DDR-Recht Asyl vor. Außerdem erwähnte man die Sowjetunion in diesem Beschluss sicherheitshalber gar nicht. Eine solche Aufnahme hätte das ganze, noch existierende sozialistische System infrage gestellt – zumal es in der sozialistischen Welt offiziell weder Antisemitismus noch die Notwendigkeit geben durfte, ein sozialistisches Land zugunsten eines anderen zu verlassen. Ein erster Akt einer getarnten Symbolpolitik in Bezug auf die Einwanderung postsowjetischer Juden nach Deutschland fand somit in der DDR statt.
Rechtlicher Rahmen: "Kontingentflüchtlinge"?
Am 9. Januar 1991 tagte die Ministerpräsidentenkonferenz des wiedervereinigten Deutschlands, auf der ein zweiter Akt einer getarnten Symbolpolitik in Bezug auf die russischen Juden besiegelt wurde: Die "jüdischen Zuwanderer", wie sie fortan heißen sollten, kamen nach wie vor ohne eindeutige Rechtsgrundlage. Eine "jüdische Emigration" nach Deutschland gab es offiziell nicht. Auf sie wurde jedoch das Kontingentflüchtlingsgesetz angewendet. Das heißt: Die Juden kamen "als wären sie" Kontingentflüchtlinge. Zur Legitimierung der jüdischen Migration brauchte man eine juristische Grundlage und eine symbolpolitische Erklärung.
Anders als z.B. im Fall vietnamesischer "Boatpeople", musste der Tatbestand der Verfolgung im Fall der Juden nicht nachgewiesen werden. Juden aus der untergehenden Sowjetunion emigrierten nach Deutschland, ins Land des Holocaust, unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit. Jene wusste lediglich, dass wieder "Ostjuden" kommen, aber nicht, unter welchen Voraussetzungen. Einer auf Symbolpolitik gründenden jüdischen Migration nach Deutschland nach der Shoa wurde ein rechtlicher Rahmen gegeben.
(...) Schicksalsgemeinschaft oder Sieger?
Beide Gruppen, Russlanddeutsche und Juden, haben beträchtliche Schwierigkeiten, ihre Erinnerungskulturen in Deutschland zu legitimieren. Einerseits sehen sich Juden aus postsowjetischen Ländern als sowjetische "Sieger" an, leben aber in einer jüdischen Opfergemeinschaft im Land der "Täter" und der "Besiegten". Sie sind meist gebildete, oft religionsferne, russischsprachige Intellektuelle – und gelten damit als "nichtjüdische Juden". Andererseits setzen Russlanddeutsche auf traditionelle Familien- und gesellschaftliche Werte. Sie streben an, als "Gleiche unter Gleichen" zu leben – d.h. als "Deutsche unter Deutschen". Deutschland definiert sich jedoch zunehmend als ein postnationales Einwanderungsland. Beide Gruppen finden nicht immer eine gemeinsame Sprache und einen mentalen Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft – und vice versa. Diese müssen weiter gesucht werden. Die hierzulande aufgewachsene jüngere, zweite Generation kommt deutlich besser an – persönlich, beruflich und kulturell. Eine öffentlichkeitswirksame und mit Bezügen zu heute erzählte Geschichte von Juden und Russlanddeutschen könnte in diesem Prozess hilfreich sein. Eine solche kontextualisierte, auch vergleichende Geschichte beider Gruppen im langen 20. Jahrhundert ist von politischer und intellektueller Relevanz für Deutschland und Europa. (...)