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Rutt
27.12.2014, 14:03
Sozialrichter Borchert über Hartz-IV-Gesetze "Ja, es stimmt: Ich bin zornig"

Abrechnung mit dem Sozialstaat - der streitbare Sozialrichter Jürgen Borchert, den manche als "soziales Gewissen Deutschlands" bezeichnen, geht in den Ruhestand.
Im SZ-Gespräch kritisiert er die Hartz-IV-Gesetze und erklärt, warum der Rückgang der Arbeitslosenzahlen nichts bringe. Für 2030 prognostiziert Borchert gar eine sozialpolitische Katastrophe.

Er hat es eilig - obwohl er gerade in den Ruhestand gegangen ist. Der Jurist Jürgen Borchert, 65, hat im Dezember sein Amt als Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht abgegeben. Ein Mann, der mit dem großen Etikett "Soziales Gewissen Deutschlands" versehen wurde, den viele als "Robin Hood der Familien" vergöttern und der maßgebliche Verfassungsbeschwerden geprägt hat, die unser Land ein klein wenig gerechter machen, hört nicht so einfach auf. Jürgen Borchert ist mit dem Zug aus Heidelberg angereist, gottseidank pünktlich - denn er hat viel zu sagen. Schnell den Laptop auf den Tisch gelegt und die gelben Karteikarten sortiert, auf der säuberlich Zahlenkolonnen von Arbeitslosigkeit bis Erziehungszeiten notiert sind. Der Mann hat eine Mission. Es kann los gehen - mit einem Resumée über das Arbeitsleben als einer der streitbarsten Sozialrichter Deutschlands und das Gefühl, manchmal im falschen System zu sein.

"Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten", beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen - es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten, so der ehemalige Sozialrichter.

"Man macht Opfer zu Tätern"

Im Januar werden die Hartz-IV-Reformen zehn Jahre alt und die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Auch dies sei, so Borchert, kein Erfolg: "Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt - mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen." Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. "Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden." Hartz IV erwecke den Eindruck, als ob die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Versagen sei. "Man macht Opfer zu Tätern", so Borchert.

Ein handfester Konstruktionsfehler im Rentensystem schaffe zusätzlich Druck - denn den so genannten Generationenvertrag gebe es gar nicht. Der pensionierte Richter und Autor von Büchern wie der "Sozialstaatsdämmerung" erklärt dies anschaulich: "Bei der Rentenreform 1950 war die Idee, den Staat wie eine soziale Großfamilie zu organisieren. Konkret hieß das: Wenn die Gesellschaft die Alterslasten trägt, muss sie auch den Aufwand für die Kinder tragen. Die Leute sollten so auch die Zusammenhänge kapieren. Konrad Adenauer hat dann verhindert, dass spiegelbildlich zur Altersrente auch die Kindheits- und Jugendrente Gesetz wird. Eine Verstümmelung des Generationenvertrags und eine asoziale Weichenstellung zu Lasten der Mehrkinderfamilien."

Jürgen Borchert, 65, war bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Wochen Vorsitzender Richter des 6. Senats des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt. Er studierte Jura, Soziologie und Politologie in Freiburg, Genf und Berlin. In seiner Dissertation entwickelte er Leitlinien für ein familiengerechtes Rentensystem. Das Thema lässt ihn seitdem nicht los; er kämpft durch alle Instanzen gegen die Missachtung der Kinder durch die Politik, fordert eine Generalreform der Sozialpolitik. Er ist der Architekt der Verfassungsbeschwerden, die 1992 zum "Trümmerfrauenurteil" und 2001 zum "Pflegeurteil" führten. Dass heute Erziehungszeiten bei der Rente angerechnet werden und Kinderlose einen höheren Pflegebeitrag zahlen, geht unter anderem auf ihn zurück. 2008 rief sein Senat das Bundesverfassungsgericht an, um die Berechnung der Hartz-IV-Leistungen zu überprüfen. Das Gericht folgte 2010 diesem Urteil. Borchert ist Gründungsmitglied der Neuen Richtervereinigung. Außerdem ist er im wissenschaftlichen Beirat von Attac aktiv.
Quelle:http://www.sueddeutsche.de/politik/sozialrichter-borchert-ueber-hartz-iv-gesetze-ja-es-stimmt-ich-bin-zornig-1.2281368